Die Seidenstickerin
riesige Anemonen, die auf dem offenen Ozean blühen. Die Blätter schienen zu schwanken und wanden sich in allen Richtungen um viele bunte Farbtupfer.
»Das lässt sich schnell machen, und die Bildsprache ist einfach zu handhaben«, sagte Renaude mit einem Selbstbewusstsein, das zeigte, wie gut sie ihre Arbeit beherrschte.
»Heutzutage ist diese Ausgabe erschwinglich«, erklärte der Buchbindermeister. »Aber als Ihr Vater dieses Manuskript erwarb, war es sehr viel teurer.«
Charles nickte zustimmend.
»Ich glaube, dass er ein kleines Vermögen dafür gezahlt hat. Aber ist es nicht wunderbar, eine solche Kostbarkeit zu besitzen?«
Er machte eine ausladende Handbewegung und sammelte dann die einzelnen Blätter vorsichtig ein.
»Wenn ich erst in der Lage bin, mich bei Euch zu bedanken, werde ich meinem Cousin, dem König von Frankreich, von Eurem großen Können berichten.«
»Ihr wollt Euch bei uns bedanken! Wofür denn, mein Herr?«
»Wäre ich etwa nicht dort draußen auf der Straße gestorben, wenn Ihr mir nicht geholfen hättet? Und wer weiß, welcher skrupellose Bauernlümmel sich meinen Pardaille geholt hätte?«
Dann nahm er den bronzenen Anhänger, den er an einer Halskette trug, ab und reichte ihn Meister Guillaume.
»Als Zeichen meiner Dankbarkeit«, sagte er, »passt gut auf ihn auf, er wird Euch Glück bringen. Das Wappen derer d’Angoulême ist auf der Rückseite des Medaillons eingraviert.«
Erst am nächsten Tag brach Charles d’Angoulême im Morgengrauen auf. Das Wetter war gut, und der blaue Himmel bot dem Reisenden einen freundlichen Anblick. Aber auch wenn er jetzt wieder rüstiger war, die Krankheit und das Fieber hatten seiner ehemals robusten Gesundheit einen bleibenden Schaden zugefügt.
In der Gegend von Niort bekam er wieder heftige Kopfschmerzen, ritt aber verbissen weiter, weil er auf keinen Fall mehr vor seinem Schloss in Angoulême Halt machen wollte.
In Niort kehrte das hohe Fieber zurück, und Charles konnte nichts dagegen tun. Wieder fuhr ihm eisige Kälte bis in die Knochen, und kalter Schweiß schlich sich unter sein samtenes Wams und durchnässte ihn bis auf die Haut.
Alix ritt auf ihrem Muli Amandine und überließ es dem Tier, das Tempo zu bestimmen. Von dem Geld aus der Börse, die ihr Jean gegeben hatte, hatte sie ein Maultier kaufen können. Deshalb konnte sie sich jetzt schonen. Und das war wichtig für das Kind von Jacquou, das sie unter dem Herzen trug. Das Kind einer ungestümen Liebe, einer vollkommenen und grenzenlosen Liebe. Wenn sie ihm das nur hätte sagen können, ehe ihn Coëtivy zu dieser grausamen Trennung zwang!
Nach reiflicher Überlegung kam Alix dann aber doch zu dem Schluss, dass es bestimmt besser war, wenn Jacquou nichts davon wusste. Ja, auf alle Fälle war das besser so! Wenn ihr jungvermählter Ehemann nämlich wüsste, dass sie guter Hoffnung war, hätte er sich vermutlich geweigert, mit seinem Vater zu gehen – und dann wären sie beide jetzt auf Arbeitssuche und Jacquou könnte nicht sein eigener Herr sein.
Nicht einmal Arnaude hatte sie davon erzählt. Ihre Freundin hätte ihr unweigerlich verboten, sich mit unbekanntem Ziel auf den Weg zu machen. Doch Alix konnte nicht für Kost und Logis bei ihr aufkommen und für das junge Paar, einfache Arbeiter, die, seit Arnaude zuhause blieb und ihr Kind aufzog, sowieso nur noch einen Lohn hatten, mit dem sie auskommen mussten, war das Leben ohnehin hart genug.
Es war schon besser so. Alix hatte sich richtig entschieden. Und solange sie auf Jacquous Rückkehr wartete, gab es nichts, was sie unter Druck setzte.
Derweil gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, die das arme junge Ding wenigstens zu ordnen versuchte. Aber es gab so vieles, womit sie nicht zurechtkam, und manchmal fühlte sie sich so einsam!
Eines wusste sie aber ganz genau. Sobald ihr Mann zurück war, wollten sie eine Werkstatt suchen, falls ihnen de Coëtivy seine Hilfe verweigerte. Jacquou hätte dann seinen Meisterbrief und Alix würde mit ihm arbeiten. Sie wollte sein Lehrmädchen, seine Arbeiterin, seine Kartonmacherin und seine Vorarbeiterin sein. Ja, Alix wollte alles auf einmal sein, und ihre Werkstatt würde wachsen und gedeihen – so wie alle anderen auch erst klein anfangen müssen, ehe sie Erfolg haben.
Nach dem überstürzten Aufbruch von Coëtivy und Jacquou hatte in Gauthiers Werkstatt helle Aufregung geherrscht. Benoîte war in Tränen ausgebrochen. »Was für eine wunderschöne Liebesgeschichte!«,
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