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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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suchten.
    Und dieser Mann hatte es verstanden, sich die Frau im Handumdrehen gefügig zu machen. Obwohl er ein bisschen schwerfällig, dicklich und ungehobelt war, warf er sich in die Brust wie ein Kämpfer, der nach einem möglichen Gegner Ausschau hält.
    Mit Kennermiene hatte er auf den ersten Blick erfasst, über welche Reize die junge Bäuerin verfügte, und ihr sofort angeboten, die Getreide- und die Heuernte für sie zu machen und alles noch vor dem Winter einzufahren.
    Doch dieser Mann wollte nicht nur die Bäuerin verführen; ihm war nicht entgangen, wie jung und hübsch, obwohl im achten Monat schwanger, Alix war und versuchte immer wieder, sie mit seinen großen behaarten Händen heimlich anzufassen, wenn sie ihm in einer dunklen Ecke über den Weg lief.
    Eines Morgens wachte Alix in der Küche auf, als der Mann über ihr war, rot und schwitzend, und versuchte ihren Rock hochzuschieben. Die junge Frau war aufgesprungen und hatte dem üblen Kerl eine Ohrfeige verpasst, der sie daraufhin als Hure beschimpfte.
    Unter dem wüsten Geschrei der Bäuerin, die entsetzlich eifersüchtig wurde und sie gemein beschimpfte, und dem verlogenen Gebrüll des brutalen Kerls war Alix zusammen mit Amandine weggelaufen.
    Gedankenverloren überließ es Alix dem Tier, das Tempo zu bestimmen, und sie kamen nur langsam voran. Amandine hatte sich offenbar endlich mit der Trennung von ihrer Mutter abgefunden und kannte jeden Weg. Vom Alter her passten die beiden auch gut zusammen; die Bäuerin hatte Alix erzählt, dass das junge Maultier noch keine zehn Monate alt war.
    Als es allmählich dunkel wurde, blieb das Muli stehen.
    »Jetzt hör aber mal zu, Amandine! Ich weiß schon, dass du das Sagen hast, aber das geht dann doch zu weit! Wir werden bestimmt nicht hier am Straßenrand schlafen und erst recht nicht in dem Gebüsch dahinten. Ich habe noch ein bisschen Geld übrig; davon können wir die Übernachtung in einem Wirtshausstall bezahlen. Geh jetzt bitte noch bis zum nächsten Dorf weiter. Morgen Abend sind wir in Poitiers, und alles wird gut. Ich werde bei Meister Antonin Noailles vorsprechen, weil ich eine Arbeit brauche.«
    Aber das Maultier blieb stur, rührte sich nicht vom Fleck und fing an zu schreien.
    »Hast du keinen Appetit auf eine schöne Portion Hafer, willst du nicht in einem Stall auf sauberem Stroh schlafen? Ich brauch jetzt jedenfalls ein großes Stück Brot und einen Krug Wasser, und dann möchte ich schlafen – meinetwegen auch neben dir im Stall.«
    Amandine hörte auf zu schreien, und Alix entdeckte plötzlich etwas auf dem Boden, das sie in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte, ihr aber irgendwie unheimlich vorkam.
    »Aber das ist ja ein Mann, der da am Straßenrand liegt!«, rief Alix. »Jetzt verstehe ich, warum du nicht weitergehen wolltest, Amandine.«
    Eine innere Stimme warnte sie davor, stehen zu bleiben. Der Mann war möglicherweise tot. Hatte man ihn überfallen, bestohlen und ermordet? Was sollte sie machen, wenn sie feststellte, dass dieser Mann, den sie jetzt doch etwas genauer ansah, nicht mehr atmete? War das ein Verbrecher oder ein wehrloses armes Opfer?
    Doch dann machte sie wieder einen Rückzieher, weil ihr einfiel, dass es sich vielleicht um die List eines Räubers handelte. Ohne Gefahr für Leib und Leben konnte sie sich nicht über diesen Mann beugen. Spätestens wenn er ihr Gesicht über sich sah, würde er aufspringen und sie überwältigen, um ihr dann ihr Geld und ihr Maultier abzunehmen, nachdem er sie vergewaltigt hatte. Vielleicht war dieser Körper aber auch der Leichnam eines Räubers, den ein anderer Gauner erstochen hatte. Es gab ja so viele finstere Gesellen, die sich nachts im Wald herumtrieben.
    Amandine fing jetzt wieder zu schreien an, und Alix hörte ein Pferd herangaloppieren. Wollte jemand dem Mann zu Hilfe kommen? Banditen hatten keine Pferde, und wenn sie eines gestohlen hatten, verkauften sie es sofort wieder.
    Ja, es war ein Pferd. Es kam näher, blieb stehen, neigte den Kopf und stupste den am Boden liegenden Mann.
    »Ach so, jetzt verstehe ich, er ist dein Herr!«, rief Alix und war nun doch überzeugt, dass sie dem Mann helfen musste.
    Als sie sich über ihn beugte, sah sie, dass sein Umhang ganz zur Seite gerutscht war; nur sein Wams schützte ihn noch vor der Kälte. Der Mann lag rücklings auf dem Boden, und als sie näher kam, sah Alix, dass er noch schwach atmete.
    »Ach, mein guter Pardaille«, flüsterte der Mann mit halbgeschlossenen Lidern,

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