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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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um die Schlossmauer herum, und Alix stellte fest, dass die Mauern so verfallen waren, dass an manchen Stellen nur noch ein Haufen unkrautüberwucherter Steine lag.
    Sie passierten das Haupttor, aber auf der steinernen Freitreppe war niemand zu sehen. Efeu und andere Kletterpflanzen und Wildblumen im Überfluss krochen über die Stufen, die anscheinend zum Empfangssaal des Schlosses führten.
    Als Alix nach oben blickte, sah sie, wie baufällig der alte Schlossturm jetzt aus der Nähe schien. Fast konnte man meinen, es handelte sich hier um ein verlassenes Schloss. Aber bei allem Verfall musste man doch von dort oben eine wunderbare Aussicht auf den Fluss haben, der gemächlich durch die Landschaft floss.
    Dann war sie auf einmal von mehreren Leuten umringt, die wild durcheinanderredeten. Drei junge Frauen bedrängten sie, gefolgt von einer alten Dame, die sich auf einen Gehstock stützte, und zwei Mädchen mit einem kleinen Jungen an der Hand. Sie überhäuften Alix mit Fragen, aber sie war so schrecklich müde.
    »Großer Gott! Was ist denn nur geschehen?«, rief eine der jungen Frauen und stürzte zu dem Pferd, auf das Charles d’Angoulême gebunden war.
    »Was für ein Unglück – jetzt war er so lange weg, und nun kommt er in diesem Zustand nach Hause!«, rief die Alte und schwenkte den Stock, setzte ihn aber gleich wider auf den Boden, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Großer Gott! Was ist denn nur geschehen?«
    Dazu muss man wissen, dass Charles d’Angoulême eigentlich nur wenige Wochen hatte wegbleiben wollen, dann aber erst nach einem Jahr wieder nach Hause kam, weil er wie jeder Edelmann aus dem Hochadel am Hof von Louis XII. Dienst leisten musste, um seine Finanzen aufzubessern. Dieser Dienst verlangte von den Adeligen des Königreichs, dass sie sich für eine bestimmte, im Voraus festgelegte Zeitspanne in der Nähe des Königs aufhielten. Es fand also ein regelmäßiger Wechsel statt, damit der Monarch zu jedem Zeitpunkt über ausreichend Personal verfügte, was seinen Hofstaat erst großartig, prunkvoll und lebendig machte.
    Alix war also von diesen ganzen Frauen umringt und sah sie nur an, ohne ein Wort herauszubekommen.
    »Wer seid Ihr?«, fragte sie jetzt die Jüngste, die sehr freundlich und hübsch aussah und keinen ganz so entsetzten Eindruck machte wie die große Dunkelhaarige, die sie zuerst angesprochen hatte. »Und wo kommt Ihr her?«
    Die kleine Blonde stand nur da und sagte nichts. Aber Alix wurde jetzt wieder von der alten Dame aufgeschreckt, die so schnell sie konnte hinter den anderen herlief und schimpfte:
    »Großer Gott! Worauf wartet Ihr denn noch? Wir müssen einen Doktor kommen lassen. Seht Ihr denn nicht, dass Charles krank ist?«
    Während die große dunkelhaarige Frau und die mit den blonden Locken nun mit der alten Dame weggingen, kam Louise zu Alix.
    »Wer seid Ihr, Demoiselle?«
    »Ich heiße Alix.«
    »Und wie kommt es, dass Ihr mit meinem Gatten unterwegs seid, der offenbar hohes Fieber hat?«
    »Ich habe den Grafen d’Angoulême von der Straße aufgelesen, wo er halbtot lag, als ich auf dem Weg nach …«
    Wohin war sie unterwegs gewesen? Es wollte ihr nicht einfallen. Sie war so schrecklich müde! Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schloss einen Moment lang die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und sah die beiden kleinen Mädchen, die sich nicht von der Stelle gerührt hatten und hinter Louise standen.
    »Es war sehr schwer für mich, ihn auf sein Pferd zu hieven. Er hat gesagt, wenn ich ihn nach Hause bringe, könnte ich vielleicht ein paar Tage bei Euch bleiben.«
    »Aber natürlich! Ihr macht auch keinen besonders gesunden Eindruck, habe ich Recht?«
    Dann endlich blieb ihr Blick an dem dicken Bauch der jungen Frau hängen, und sie rief erschrocken:
    »Aber Ihr seid ja schwanger!«
    Alix nickte. »Ja, ich bekomme ein Kind von meinem Jacquou. Es dauert nicht mehr lange, dann kommt er aus Flandern zurück, und wir können endlich zusammen sein.«
    Und als sie sah, dass ihr Louise beim Absteigen helfen wollte, sagte sie leise:
    »Könnt Ihr bitte meinem Muli eine ordentliche Portion Hafer geben? Den hat sich Amandine wirklich verdient. Es war nicht leicht für sie, die ganze Zeit und ohne eine Pause hinter Pardaille herzulaufen.«
    Dann ließ sie sich bereitwillig ins Schloss führen. Wenige Minuten später merkte sie nur noch, dass man sie in ein warmes, weiches Bett gelegt hatte, und schlief sofort tief und fest ein.
    Sie wachte erst wieder

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