Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
griff Fygen ihren Umhang vom Haken an der Wand. Sie würde selbst ins Goldene Krützchen laufen und der Sache auf den Grund gehen.
Fygen traf den überraschten Rudolf in der leeren Schankstube an, wo er Becher vom Vorabend spülte und sie sorgfältig auf ein Tuch zum Trocknen stellte. Erst zur Mittagszeit würde sich der Weinzapf wieder mit Gästen füllen, das Hauptgeschäft begann in den frühen Abendstunden und ging dann oft bis spät in die Nacht. Daher kamen die Wirtsleute erst sehr spät ins Bett und schliefen demzufolge morgens länger als die meisten Bürger. Im Hause der van Bensbergs hatte man Sewis’ Abwesenheit noch nicht bemerkt. Gemeinsam kletterten Fygen und Rudolf die hölzerne Stiege ins Dachgeschoss hinauf und klopften an Sewis’ Stubentür. Fygen war nicht überrascht, dass sie keine Antwort erhielten. Vorsichtig öffnete sie die Tür und lugte in den engen Raum. Der Strohsack war leer, das Laken darüber sorgfältig glattgestrichen, die Haken an der Wand verwaist. Die Kammer wirkte unbewohnt, ließ nicht den kleinsten Hinweis mehr auf ihre Bewohner zu. Sewis war tatsächlich fort. Sie hatte all ihr Hab und Gut mitgenommen und sich ohne ein Wort des Abschieds davongemacht.
»Wie undankbar«, entfuhr es Rudolf enttäuscht, als er das leere Zimmer sah. Das hatte er nach der herzlichen Aufnahme, die er und seine Familie Sewis in ihrer schlimmsten Stunde gewährt hatten, nicht erwartet.
»Ich glaube, es ist mehr das schlechte Gewissen, dass sie Herman zurücklässt, und die Angst davor, ihr könntet sie von ihrem Vorhaben abbringen, was immer sie auch zu tun plant«, besänftigte ihn Fygen.
»Da steckt sicher wieder ein Kerl dahinter«, brummte Rudolf böse. Er hatte in der lebenslustigen Sewis so etwas wie eine jüngere Schwester gesehen und ärgerte sich nun, dass er nicht besser auf sie achtgegeben hatte.
Auch Fygen fragte sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich mehr um Sewis gekümmert hätte. Sie war so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen.
»Mein Gott, Sewis ist erwachsen. Sie muss selber entscheiden, was sie will«, sagte Fygen laut, wie um Rudolf und sich selbst von ihren Worten zu überzeugen. »Und wenn sie ihre große Liebe gefunden hat und mit einem Mann auf und davon ist, so ist das ihre Sache.«
»Muss ja ein toller Kerl sein, wenn sie dafür ihren Sohn im Stich lässt«, sagte Rudolf bissig.
»Ja«, stimmte Fygen ihm traurig zu. Sewis’ Leben war nie leicht gewesen und würde es auch in Zukunft nicht werden. Und für das meiste Unglück konnte sie niemand anderen verantwortlich machen als sich selbst.
»Ich denke, es ist das Beste, wenn der kleine Herman erst einmal bei uns bleibt, wie Sewis es sich gewünscht hat. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Zurück in der Lützenkirchenschen Küche, traf Fygen ihren Gatten in denkbar schlechter Laune an. Er hatte einen dampfenden Becher heißen Weines in der Hand und lief damit unruhig auf und ab. Mit großen Augen und offenem Mund verfolgte Herman jede seiner Bewegungen. Seit seinem Beinahe-Fenstersturz war Peter sein erklärter Held. Maren saß am Küchentisch und schrubbte Rüben für das Mittagessen, dabei sang sie laut und ziemlich falsch vor sich hin. Ihre üppige Oberweite schwebte knapp über der Tischkante und drohte jederzeit abzustürzen. Fygen merkte, dass der schiefe Gesang der Magd Peter auf die Nerven fiel. »Maren, sei so gut und hänge meine nassen Sachen zum Trocknen auf«, sagte sie, um die Magd aus der Schusslinie zu bringen. Maren ließ die Bürste sinken, schob ihr breites Becken hinter dem Tisch hervor und watschelte gemächlich, immer noch singend, zur Tür hinaus. Dabei stellte sie die Füße so eigentümlich schräg nach innen, dass es an den Gang einer gut gemästeten Gans erinnerte. Irgendwann fällt sie noch über die eigenen Füße, dachte Fygen leicht gereizt.
»Wo warst du?«, wollte Peter wissen. Er schien wirklich aufgebracht zu sein. Fygen zögerte. Um Zeit zu gewinnen, schenkte sie sich ebenfalls einen Becher heißen Weines ein. Wie konnte sie ihm am besten beibringen, dass sie gedachte, den Jungen bei sich zu behalten?
Doch Peter erwartete keine Antwort auf seine Frage. »Es ist nicht zu fassen«, polterte er los. »Sie haben doch tatsächlich Frieden geschlossen!«
Fygen blickte ihn verständnislos an. »Wer hat Frieden geschlossen? Und was hat das mit Herman zu tun?«
»Wieso Herman?« Nun war es an Peter, irritiert zu sein. Doch nur für einen Moment, dann nahm er
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