Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Stadt kroch. Zu beiden Seiten ragten die Giebel der schmalen, hohen Häuser auf und schienen einander beinahe zu berühren. Der Gefangene zwischen den Wachmännern bog im Gehen den Kopf in den Nacken und blinzelte zu dem schmalen Streifen schmutzig grauen Himmels hinauf, der zwischen den Dächern hervorlugte. Obwohl sie schon eine geraume Weile unterwegs waren, hatten seine Augen sich nach den Wochen der Dunkelheit im Kerker noch nicht an das trübe Tageslicht gewöhnt, das in die Gasse sickerte. Das Gehen fiel ihm schwer, denn die endlosen Wochen, die er fast bewegungslos in seiner engen Zelle verbracht hatte, hatten seine Muskeln verkümmern lassen. Zudem machte ihn der Hunger schwindeln, und er war beinahe froh, dass seine Bewacher ihn in die Mitte genommen hatten, denn er drohte jeden Moment umzukippen. Die vier Männer scherte das wenig. Sie beeilten sich, den Gefangenen zum Stalhof zu bringen, und hofften, dort nicht unnötig lange aufgehalten zu werden, denn es wäre ihre letzte Aufgabe für den Tag. Sie freuten sich bereits darauf, den Abend in einer der Schankstuben von The Borough zu verbringen, einem lebhaften Viertel südlich der London Bridge, das vielerlei Amüsement bot.
Ihr blasser Gefangener war ein groß gewachsener Mann, der seine Bewacher beinahe um Haupteslänge überragte, doch übermäßige Wachsamkeit war in seinem Fall kaum vonnöten, denn die lange Kerkerhaft hatte den einstmals kräftigen, breitschultrigen Kerl stark mitgenommen. Sie wussten nicht, was er verbrochen hatte, doch besonders gefährlich kam er seinen Bewachern nicht vor. Sein honigfarbenes Haar war strähnig, dunkel vor Fett, wucherte bereits über die Ohren und verfilzte dort mit dem zotteligen Bart, in dem sich schon das ein oder andere graue Haar in das Blond mischte. Was sollte dieser abgemagerte Mann mit den eingefallenen Wangen schon gegen sie ausrichten?
Nach wenigen Schritten führte der Anführer seine kleine Truppe scharf nach rechts in eine noch schmalere Stichgasse hinein, die zur Wendegoslane führte, an welcher der hintere Eingang zur Gildhall lag. Er hatte genaue Anweisungen, doch es war ungewöhnlich und umständlich, diesen Eingang zu nutzen, durch den üblicherweise nur Waren, die vom Fluss heraufkamen, in das Gebäude gelangten. Aber es war ohnehin ungewöhnlich, dass ein Gefangener aus dem Tower hierher gebracht wurde. Für einen kurzen Moment lang wunderte sich der Wachmann tatsächlich darüber. Mehr Zeit blieb ihm dafür allerdings nicht, denn als er gerade ein paar Schritte in die Gasse hineingemacht hatte, bekam er einen harten Schlag auf den Kopf. Sein Blick trübte sich, und ohne zu verstehen, weshalb, brach er zusammen und sank auf den schlammig feuchten Boden der Gasse. Seinen Untergebenen, der rechter Hand von ihm gegangen war, ereilte dasselbe Schicksal. Auch er sah den Schlag aus der Dunkelheit des Hauseinganges nicht kommen. Es krachte dumpf, als Holz auf Knochen traf, und der bewusstlose Körper fiel zu Boden. Schlamm spritzte auf, als sein Gesicht in einer Pfütze zu liegen kam, und zwei zur Unkenntlichkeit Vermummte sprangen aus gegenüberliegenden Hauseingängen auf die Gasse.
Der Gefangene blickte überrascht auf. Instinktiv riss er schützend die zusammengebundenen Hände über den Kopf und duckte sich in Erwartung eines Schlages. Ergeben schloss er die Augen. Wenn es jetzt und hier in dieser tristen Gasse sein sollte, dass er dem Herrn gegenübertreten würde, dann musste es wohl so ein. Schade wäre es, aber daran ließe sich nichts ändern.
Doch der befürchtete Hieb blieb aus. Die Vermummten übergingen ihn einfach, drängten an ihm vorbei und stürzten sich auf die beiden verbleibenden Wachmänner, nun jedoch ohne den Vorteil des Überraschungsmomentes. Der eine Angreifer, ein stämmiger, kräftiger Kerl, strauchelte über den Fuß eines der bereits Niedergestreckten. Der schwere Eichenknüppel entglitt seinen Händen und polterte zu Boden. Doch der Angreifer ließ sich dadurch nicht entmutigen. Mit blanken Fäusten schlug er auf das ungeschützte Gesicht des größeren der beiden Wärter ein. Jeder seiner kraftvollen Hiebe wurde von einer ruckartigen Bewegung des Unterkiefers begleitet.
Zu Tode erschrocken beobachtete der Gefangene den Kampf. Der Gedanke an Flucht kam ihm gar nicht in den Sinn, zumal er in seiner Verfassung sicher nicht sehr weit gekommen wäre. Irgendetwas war seltsam an diesem Überfall. Die stämmige Gestalt des Angreifers, sein rundlicher Kopf, ja, alle
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