Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
»Stell dir vor«, sagte sie. »Papa hat für uns ein neues Haus gekauft. Es ist ein Hof und hat einen Obstgarten und …«
»Wo ist es?«, unterbrach Lisbeth knapp das Schwärmen ihrer Mutter und bedachte Fygen mit einem argwöhnischen Blick.
»Bei St. Cäcilien. Es ist …«
Doch Lisbeth ließ sie nicht aussprechen. Sie gab einen beinahe hysterischen Schluchzer von sich und warf sich theatralisch über den Warenbaum. Dann fuhr sie plötzlich auf, raffte ihre Röcke und rannte ohne Erklärung aus der Werkstatt.
Fassungslos starrte Fygen ihr nach. »Verstehe einer die Mädchen«, murmelte sie leise.
»Ganz einfach«, erklärte Sophie lässig. Sie hatte unbemerkt die Werkstatt betreten und die Worte ihrer Mutter sowie den überstürzten Abgang ihrer Schwester mitbekommen. »St. Cäcilien ist zu weit weg vom Haus Zur Roder Tür.«
Fygen schaute immer noch nicht klüger drein, und so ließ Sophie sich herab, noch deutlicher zu werden: »Es ist zu weit weg von Tim. Dann kann sie ihn nicht mehr jeden Tag sehen!«
Tim war nach dem Tod seines Vaters in das Haus Zur Roder Tür zurückgekehrt, um Katryn beim Einkauf der Rohseide und beim Verkauf ihrer Seidwaren, so gut es ging, zu unterstützen. In den ersten Jahren hatte Peter ihm dabei oft mit Rat und Hilfe zur Seite gestanden, doch inzwischen hatte sich der ernsthafte Sechzehnjährige zu einem vielversprechenden Kaufmann entwickelt, der sein Handwerk verstand und von dem zu erwarten war, dass aus ihm ein erfolgreicher Seidenhändler werden würde.
Ohne zu erklären, wo sie gesteckt hatte, ging Sophie gemächlich zu ihrem Webstuhl und setzte sich. An der Breite, oder vielmehr der nicht vorhandenen Breite ihres seit dem Morgen gewebten Stückes konnte Fygen unschwer erkennen, dass Sophie alles Erdenkliche getan hatte, während die Mutter fort gewesen war, nur nicht gewebt. Doch das verwunderte Fygen nicht. Sophie verabscheute das Seidenhandwerk. Wobei es nicht das eigentliche Handwerk war, was Sophies Unwillen erregte. Liebend gerne hätte Fygen ihre Älteste zu einer anderen Lehrfrau gegeben, damit sie dort ein Handwerk erlernen würde, das ihr besser läge. Nein, Sophie verabscheute jede Art von Arbeit. Mit ihren vierzehn Jahren war sie nun im dritten und eigentlich letzten Lehrjahr, denn das Seidamt hatte die Lehrzeit inzwischen auf drei Jahre verkürzt. Doch Fygen konnte sich nicht vorstellen, dass Sophie die Prüfung vor dem Amtsvorstand bestehen würde. Sie brauchte nur das angefangene Webstück ihre Tochter zu betrachten. Der Rand war flatterig und wellig, das Gewebe in sich ungleichmäßig. Bis heute hatte Sophie nicht gelernt, die Kammlade einigermaßen gleichmäßig anzuschlagen. Es war schade um die teure Seide, die sie verbrauchte, dachte Fygen, denn das Tuch wäre bei der Qualität unverkäuflich, und Fygen würde sich hüten, es auch nur anzubieten und sich damit ihren Ruf als eine der besten Seidmacherinnen der Stadt zu verderben. Eigentlich wäre es einträglicher, wenn Sophie nicht mehr in der Werkstatt erschiene, dachte sie grollend. Zorn stieg in ihr auf, als sie beobachtete, wie Sophie gemächlich nach dem Schiffchen griff. »Wo warst du?«, herrschte sie ihre Tochter an. »Und warum hast du nicht gearbeitet?«
Sofort verstummte das leise Gesumm der Frauen und Mädchen, die sich bei der Arbeit gedämpft unterhielten. Gespannt spitzten alle die Ohren. Es kam nicht oft vor, dass die Meisterin ihre älteste Tochter offen zur Rechenschaft zog. Obwohl diese es bei Gott verdient hätte.
»Ich hatte noch etwas zu erledigen«, erklärte Sophie lahm.
»Es ist eine rechte Plage mit dir«, schimpfte Fygen. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, welch ein schlechtes Beispiel du den anderen Lehrmädchen gibst? Wie sollen sie Lust haben, fleißig zu arbeiten, wenn du dich in der Gegend herumtreibst?«
»Ich bin ja auch die Tochter der Lehrherrin«, maulte Sophie überheblich.
»Du? Was maßt du dir eigentlich an? Du bist eine rechte Schande für die ganze Zunft!« Erzürnt funkelte Fygen ihre Tochter an. Die anderen Lehrmädchen hielten den Atem an. So wütend hatten sie ihre Meisterin selten gesehen.
»Da du anscheinend nicht gerne webst und das auch offensichtlich nicht kannst, wie du mal wieder hinlänglich bewiesen hast, wird es von nun an deine Aufgabe sein, die Seidenballen in Leinen einzunähen. Mal sehen, ob dir das ein wenig Demut beibringt.«
Entgeistert schaute Sophie ihre Mutter aus großen, runden Augen an. Auf die Idee, Fygen
Weitere Kostenlose Bücher