Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
der sich die Hofengass und die St.-Cäcilien-Straße trafen. Ein Stück weiter lag die städtische Wollküche, und direkt gegenüber erkannte Fygen das Hofgut mit den prächtigen Erkertürmen wieder, in das sie sich vor unendlich langer Zeit bei einem ihrer ersten Spaziergänge mit Katryn verliebt hatte. »Haus Wolkenburg«, flüsterte sie leise vor sich hin, und ihr entfuhr ein Glucksen, als sie daran dachte, wie dreist und leichtsinnig sie damals gewesen war, einfach in den Hof fremder Menschen hineinzulaufen. Wie lange war das nun her? Über zwanzig Jahre, rechnete sie aus und sah wieder Katryns entsetztes Gesicht vor sich, als sie die Ärmste einfach mit sich in den Hof gezogen hatte.
Peter tat so, als hätte er Fygen nicht gehört, und vielleicht hatte er ja wirklich nichts gehört, denn zielstrebig überquerte er nun die Wegkreuzung und steuerte genau auf das Eingangstor der Wolkenburg zu. Fygen hatte gerade Luft geholt, um ihm zu erzählen, wie sie und Katryn damals nur mit knapper Not und mit Hilfe von Frau Starkenbergs Würsten und einer frechen Zunge davongekommen waren, als Peter mit der allergrößten Selbstverständlichkeit das Hoftor aufdrückte. Nun war es an Fygen, ein ähnlich überraschtes Gesicht zu ziehen wie dereinst ihre Freundin. Als Peter sich anschickte, den Hof zu betreten, hielt sie ihn zurück. »Du kannst da nicht einfach hineingehen. Es gibt dort Hunde, und der Hofverwalter ist ziemlich unfreundlich, soweit ich mich erinnern kann«, sagte sie.
»So? Nun, für die Hunde habe ich etwas«, entgegnete Peter. Nur mühsam unterdrückte er ein Lachen, als er das Tuch von dem Korb nahm, hineingriff und Fygen eine schöne, saftige Schweinswurst in die Hand drückte. Verwundert schaute Fygen ihren Mann an. Was, in Herrgottsnamen, hatte das zu bedeuten? Doch ehe sie ihn fragen konnte, hatte er sie hinter sich her in den gepflasterten Hof gezogen. Unter freudigem Gewinsel raste ein kaum wadenhohes, kastanienfarbenes Bündel mit großen, dunkelbraunen Samtaugen auf sie zu. Der junge Hund witterte sofort Fygens Wurst, drückte seine Schnauze in ihren Rock und versuchte, sich mit seinen dicken, tapsigen Pfoten an ihr aufzurichten. Fygen hockte sich nieder, brach ein Stück von der Wurst ab und reichte es dem kleinen Kerl, der es sich schmecken ließ. Die Wurst schien ihren herzhaften Duft weit zu verbreiten, denn in wilder Jagd kamen nun auch die zwei Brüder des Welpen angeflitzt und gaben sich alle Mühe, einen Teil des Festschmauses für sich zu erobern. Schmunzelnd reichte Peter seiner Frau eine weitere Wurst.
Liebevoll streichelte Fygen dem jungen Hund über das flauschige Welpenfell. »Du bist genauso hübsch wie dein Papa«, flüsterte sie zärtlich.
»Doch wohl eher der Groß- oder Urgroßvater.« Peter lachte.
Fygen richtete sie sich auf und ermahnte ihren Mann: »Das ist doch gleichgültig. Bevor wir uns mit ihrem Herrn auseinandersetzen müssen, sollten wir lieber verschwinden.« Dann erst ging ihr der Sinn auf, der hinter Peters Worten steckte. »Du weißt von der Geschichte? Hat Katryn dir etwa davon erzählt?«
Doch bevor Peter antworten konnte, war bereits ein grobschlächtiger, älterer Mann in derber Kleidung auf sie zugetreten und begrüßte sie ehrerbietig. »Guten Tag, Herr Lützenkirchen, Frau Lützenkirchen.« Er verbeugte sich höflich. Der kräftige Mann war um einiges gealtert, seit Fygen ihn zuletzt gesehen hatte, doch Fygen erkannte in ihm unschwer den unfreundlichen Verwalter von einst wieder. Wie beiläufig entledigte er sich eines der lästigen Hunde mit einem wohlgezielten Tritt seiner derben Stiefel.
Der kleine Welpe, der einzig den Fehler begangen hatte, in der Nähe des Verwalters fröhlich wedelnd herumzuspringen, quietschte unter dem groben Tritt auf, flog ein Stück weit und schlug unsanft auf das Pflaster auf. Vor Schmerz winselnd, schleppte er sich aus der Reichweite der Stiefel seines Peinigers und suchte hinter Fygens Rock Schutz.
Fygen sog scharf die Luft ein. Sie hätte den Verwalter auf der Stelle wegen seiner Grobheit erwürgen können und hatte bereits den Mund geöffnet, um ihn zur Rede zu stellen, als Peter beruhigend seine Hand auf ihren Arm legte. Leise zischte er ihr ins Ohr: »Später! Ich kümmere mich darum.«
Der Verwalter lächelte unterwürfig und machte eine einladende Geste. »Kommt bitte hier entlang«, sagte er, ging ihnen voraus über den Hof und betrat, von Peter gefolgt, das Haupthaus. Fygen blieb nichts anderes übrig, als den
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