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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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mit seinen Gedanken allein zu lassen.
    Im Schutze der Mauern hielt sich die Wärme des vorsommerlichen Tages bis spät in die Nacht, und kaum einer der Gäste dachte daran, das Fest zu verlassen, solange noch Wein ausgeschenkt wurde und die Musikanten nicht ihre Instrumente zusammenpackten. Fygen hatte es, besonders nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen, genossen, mit Peter zu tanzen, und hatte bei weitem mehr von dem tiefroten Wein aus der Gegend um Mainz getrunken, als gut und schicklich für eine Brautmutter war. Und so war sie beinahe enttäuscht, als der erste Lichtschimmer des Morgens im Westen durch die Nacht brach und die letzten Gäste das Fest verlassen hatten.
    Doch viel Schlaf bekam sie in dieser Nacht nicht mehr, denn bereits zwei Stunden nachdem sie sich zur Ruhe gelegt hatte, klopfte eine junge, in die dunklen Gewänder der Beginen gehüllte Frau an das Tor, um ihr die traurige Nachricht zu bringen: Sewis war in der vergangenen Nacht verstorben. Kurz nach Mitternacht hatte sie ihre Seele dem Schöpfer anbefohlen und war still und leise, ganz anders als sie gelebt hatte, von ihnen gegangen. Just während in der Wolkenburg ausgelassen gefeiert wurde, dachte Fygen betroffen. Ihre Erinnerungen an Agnes’ Hochzeit würden für immer mit Sewis’ Tod verknüpft bleiben.

    Eine Woche war seit Agnes’ Hochzeit vergangen, und immer noch hatte sich niemand so recht in den neuen Räumen eingelebt. Der Glanz und die Ausgelassenheit des Hochzeitsfestes waren rasch verblasst, und ein kühler Westwind schickte dunkle Regenwolken über das Land, als wolle er der Stimmung im Hause Lützenkirchen gerecht werden. Sewis’ unnötig früher Tod lastete Fygen auf der Seele, und Herman, wenn er denn im Hause war, wirkte abwesend und bedrückt. Auch Lisbeth schlich mit Trauermiene auf dem sonst so fröhlichen Gesicht durch die Flure, denn sie durchlebte zurzeit das größte Unglück ihres jungen Lebens: Sie konnte ihren Tim nun nicht mehr jeden Tag sehen. Zudem fehlte ihnen allen Agnes mit ihrem sanften, ausgleichenden Wesen, die in das Haus ihres Mannes gezogen war.
    Eine unterschwellig gespannte Stimmung schien von dem ganzen Haus und seinen Bewohnern Besitz ergriffen zu haben, als warteten sie darauf, dass etwas Außergewöhnliches geschehen würde.
    Ein fernes Donnergrollen ließ den kleinen Hund auffahren, der sich zu Fygens Füßen unter ihrem Schreibpult zusammengerollt hatte. Zugleich wurde die Tür zu ihrem Kontor aufgerissen, und Peter stand im Rahmen, die Stirn in Falten gelegt. »Fygen, kommst du einen Moment in mein Kontor?«, fragte er ernst.
    Ein Blick in das sorgenvolle Gesicht ihres Mannes sagte Fygen, dass der Moment gekommen sein musste. Sofort sprang sie auf, denn was immer es auch war, entgehen konnte man ihm ohnehin nicht.
    Als Fygen Peter auf den Flur hinaus folgte, schob sie Hilfe suchend ihre Hand in die Tasche ihres Rockes. Mit festem Griff umfassten ihre Finger das glatt geschliffene Stück Holz darin. Es war eine alte Spindel, Maries alte Spindel, die Fygen oft in ihrer Tasche mit sich herumtrug, seit jenem Tag kurz nach dem unseligen Vorfall mit den Beginen vom Annenkonvent. Wenige Tage danach hatte sie die alte Marie in ihrem Häuschen am Hühnermarkt aufgesucht, um ihr zu danken.
    Wie gewohnt hatte sie die alte Frau in ihrem Stuhl sitzend vorgefunden, die Hände im Schoß über der blank gewetzten Spindel gefaltet. Die Augen waren ihr, wie für einen kurzen Schlummer, zugefallen, und sie trug einen zufriedenen, wenn auch ein wenig überraschten Ausdruck auf dem Gesicht. Ihren Dank hatte Fygen Marie nur noch in Gedanken abstatten können. Denn so sanftmütig die alte Frau mit den Menschen, die sie umgaben, umgegangen war, so sanftmütig war der Tod mit ihr umgegangen und hatte sie sachte und ohne Schrecken mit sich genommen.
    Behutsam hatte Fygen Maries Spindel aus den krummen, knotigen Fingern gelöst und dafür gesorgt, dass die alte Frau ein würdiges Begräbnis erhielt. Erst viel später hatte Fygen gemerkt, dass sie Maries Spindel in die Tasche ihres Rockes gesteckt hatte, und seither galt sie ihr als ganz besonderer Talisman.
    Fygen war nicht sehr überrascht, Herman in Peters Kontor vorzufinden. Sehr aufrecht, sehr gefasst stand er da. Sein junges Gesicht zeigte Entschlossenheit, und zur Sicherheit hatte er die Hände zu Fäusten geballt.
    »Sag deiner Mutter selber, was du vorhast«, forderte Peter den Jungen auf.
    Fest schloss sich Fygens Hand um Maries Spindel. Sie wusste,

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