Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Waren gezählt und eingelagert wurden, denn hier, und nur hier, durften sie unter der strengen Aufsicht der venezianischen Beamten ihre Geschäfte abwickeln. Es war ihnen nicht gestattet, die Barerlöse ihrer Warenverkäufe auszuführen, vielmehr hatten sie diese, ebenfalls im Fondaco, für venezianische Waren auszugeben, so bestimmte es die mächtige Republik San Marco. Doch für Herman erwies sich diese Gepflogenheit als Glück, denn im Fondaco ging es sehr geschäftig zu, und es war ein Leichtes, sich bei einem Augsburger Händler als Kaufmannsknecht zu verdingen. Die Arbeit war anstrengend, und oft reichten die Schlafplätze nicht aus, so dass die Knechte in den Gängen übernachten mussten, doch Herman genoss die geschäftige Atmosphäre und bemühte sich, die Gepflogenheiten des venezianischen Handels zu erlernen. Leider war das feuchtheiße Klima der Lagunenstadt seiner Gesundheit nicht zuträglich, und wie manch anderer Deutscher wurde auch er vom Fieber heimgesucht. Doch anders als einige seiner Landsleute hatte Herman Glück und überstand die Fieberwehen. Nur ungern wollte er sein Glück weiter auf die Probe stellen, und so verließ er die Serenissima bald nach seiner Genesung. Über Bologna und Florenz, wo er sich jeweils für eine Zeit bei deutschen Faktoren als Gehilfe verdingte, gelangte er nach Lucca. Er schloss diese sonnenverwöhnte Stadt sofort in sein Herz, und hier machte er auch die Bekanntschaft von Alberto Pezzi. Alberto züchtete Seidenraupen und schien aus irgendeinem Grund besonderen Gefallen an dem blonden Jungen zu haben, mit dem er sich zu Anfang kaum verständigen konnte. Er bot ihm für ein paar Tage eine günstige Unterkunft an, und Herman zeigte sich dafür erkenntlich, indem er Alberto bei seiner Arbeit zur Hand ging. Herman genoss das schlichte Leben auf dem Land, und nach und nach weihte der Seidenzüchter ihn in alle Geheimnisses der Zucht des Seidenspinners ein. Herman half ihm beim Aussetzen der überwinterten Raupen, beim Einsammeln der Kokons, beim Reinigen der Zuchtschuppen und bei der Ernte der Blätter der Maulbeerhecken, die den Raupen als Nahrung dienten. Als Herman auf die Arbeit mit den Seidenspinnern zu sprechen kam, begannen seine Wangen zu glühen, und Fygen merkte, welche Leidenschaft der Junge für die Seidenzucht empfand.
Herman fühlte sich sehr wohl in Lucca. Weit länger als ein Jahr blieb er bei Alberto. Doch irgendwann wurde er unruhig. Er konnte des Nachts nicht mehr schlafen, war bei der Arbeit müde und unkonzentriert. Alberto erfasste recht schnell die Ursache hierfür und nahm seinen jungen Freund beiseite. In seiner wortkargen Art erklärte er Herman, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Der Abschied fiel Herman schwer, doch er wusste, es war die richtige Entscheidung. Und so war er vor wenigen Tagen wieder in seiner Heimatstadt angekommen.
»Wie viel Rohseide verarbeitest du im Jahr?«, beendete er seinen Bericht mit einer Frage an Fygen.
»So um die viertausend Pfund.«
»Und ihr?«, wandte er sich an Tim.
»Nun, fünftausend Pfund sind es schon.«
Katryn und auch Fygen hatten immens große Betriebe aufgebaut. Sie bildeten jeweils vier Lehrmädchen zugleich aus, beschäftigten einige ausgelernte Seidmacherinnen und eine Reihe von Hilfskräften. Doch darüber hinaus gaben sie einen beinahe genauso großen Teil der gesponnenen Seide außer Haus, um sie von anderen Seidmacherinnen gegen Lohn weben zu lassen. Im Jahr brachten sie es gut und gerne auf achtzig bis hundert Zentner Rohseide, die durch ihre Bücher gingen.
»Und der Zentner kostet, je nach Qualität, um die zweihundertfünfzig Gulden, nicht wahr?«, fragte Herman. »Seid ihr eigentlich schon einmal auf die Idee gekommen, dass wir auch unsere eigene Seide züchten könnten?«
Sprachlos vor Staunen starrten ihn alle an. Hätte er gesagt, sie sollen über das Wasser laufen, sie hätten nicht verdutzter blicken können.
»Was für ein Unsinn«, schmetterte Peter den Gedanken ab. »Seide kommt aus der Levante und aus den Mittelmeerländern. Da ist es weit wärmer als hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Seidenraupenaufzucht hier bei unseren Temperaturen möglich ist.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Herman ihm. »Seidenspinner ernähren sich ausschließlich von den Blättern des Maulbeerbaumes. Und der gedeiht da, wo auch Obst wächst. Glaub mir, im Winter ist es auch in Lucca oft unangenehm kalt.«
»Wenn das ginge, wären andere vor uns längst auf die Idee
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