Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
es vom Rahmen zu schneiden und die Kettfäden sorgfältig und unsichtbar im Gewebe zu verstopfen. Dann endlich lag das Werkstück in seiner vollen Pracht vor ihnen. Nachdem Fygen es erneut gebührend bewundert hatte, schlug Katryn es sorgfältig in ein Stück sauberes Leinen ein, um es bis zum Tag der Prüfung gegen Staub und Schmutz zu schützen, und verstaute es sicher auf dem Regal oberhalb ihres Strohlagers.
Wie eine Verrückte sauste Katryn durch die Werkstatt. So aufgebracht und nervös hatte Fygen die Freundin noch nie erlebt. Unschöne, hektische Flecken verunzierten ihre sonst so makellose Haut, und ihre honigfarbenen Zöpfe sahen unordentlich aus. Heute Morgen sollte sie in das Haus des Zunftvorstandes kommen, um ihre Prüfung abzulegen und um ihr Werkstück zur Begutachtung vorzulegen.
Doch das kostbare Gewebe war fort. Verschwunden. Einfach nicht mehr da. Immer wieder kroch Katryn in alle Ecken der Werkstatt, in der Hoffnung, es irgendwo finden zu können.
Auch Fygen hatte ihre Arbeit unterbrochen und methodisch den ganzen Raum durchsucht. Nun war sie sicher, dass sich das Werkstück nicht mehr würde auffinden lassen.
Grete, die sich nicht mehr länger drücken konnte und vor zwei Tagen an die Arbeit zurückgekehrt war, saß ungerührt an ihrem Webstuhl. Sie schien die ganze Aufregung geflissentlich zu übersehen, was in Fygen einen gewissen Argwohn entstehen ließ. Aber Fygen teilte ihren Verdacht nicht mit Katryn, das hätte die Freundin nur noch mehr beunruhigt. Vielmehr hieß es nun, einen kühlen Kopf bewahren. Zunächst einmal galt es, Katryn zu beruhigen und in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Mit beiden Händen fasste Fygen die Freundin bei den Oberarmen und zwang sie, ruhig stehen zu bleiben. »Es hat keinen Zweck weiterzusuchen. Es ist nicht da«, erklärte sie ihr. »Du musst ohne die Seide gehen. Wasch dir das Gesicht und kämm die Haare, du siehst schrecklich aus.«
»Wenn ich durch diese Prüfung falle und noch ein Jahr länger hierbleiben muss, werde ich verrückt. Das halte ich nicht aus.« In Katryns Stimme klang ein Anflug von Panik mit. Doch sie ließ sich von Fygen zu ihrem Strohlager bringen, und während Fygen ihr die Zöpfe neu band, redete sie beruhigend auf Katryn ein. »Geh einfach hin und beantworte die Fragen, das wird ein Kinderspiel für dich, wenn du ruhig bleibst. Und dann erklärst du, was geschehen ist. Ich kann es beschwören, wenn das etwas nützt. Sag, dass du das Werkstück so schnell wie möglich nachreichst.«
Katryn schluckte tapfer und machte sich auf den Weg, während Fygen sich den Anschein von Normalität gab und Schussgarn auf Spulen wickelte. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben und ihre Arbeit zu verrichten. Dann endlich, als sie glaubte, sie hätte eine angemessene Zeitspanne verstreichen lassen, würgte sie laut und vernehmlich, bemüht, ein möglichst echt klingendes, ekliges Geräusch zu machen.
Angewidert verzog Grete das Gesicht. Fygen blies die Wangen auf, presste die Hand auf den Mund und rannte mit fliegenden Röcken an ihr vorbei zur Werkstatttür hinaus in Richtung Latrinen.
Doch vor dem bewussten Holzverschlag war ihre Übelkeit auf seltsame Weise verflogen. Im Laufschritt hielt sie auf den Pütz zu, eilte daran vorbei und schlüpfte in einen schmalen, dunklen und schmutzigen Durchlass. Sie zwängte sich an ein paar maroden Fässern vorbei und verschwand kurz darauf zwischen zwei alten, baufälligen Häusern.
»Sehr schön. Du scheinst dich ja gut auszukennen. Du wirst einmal eine erfolgreiche Seidmacherin, da bin ich mir sicher«, lobte der Zunftmeister freundlich. »Wenn du mir jetzt noch das Gewebe zeigst, das du angefertigt hast?«
»Äh, das ist so, Herr Lützenkirchen …« Katryn knickste und rang nach Worten. »Das Werkstück, also mein Werkstück, also das für die Prüfung, meine ich …«
»Ja, genau das. Was ist damit?« Peter Lützenkirchen, Seidenhändler und Zunftvorstand, wurde ungeduldig. Bisher hatte das Mädchen alle seine Fragen so zügig und sicher beantwortet. Was war nun mit dem Werkstück?
»Ja, also, das ist so: Das Werkstück …«
In dem Moment klopfte es hektisch an die Tür, und ohne sein gebrummtes Herein abzuwarten, stürmte Fygen in den Raum. Sie knickste nachlässig in Richtung des Zunftmeisters, murmelte eine undeutliche Entschuldigung und trat auf Katryn zu.
»Hier ist dein Werkstück«, sagte sie und reichte Katryn ein Stück Seidenstoff.
»Was ist das?«, fragte Katryn
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