Die Seilschaft
Schuld leben, und zum anderen erwächst aus meiner Tat seitdem nur Schlechtes. Straftaten. Sie geschehen täglich. Heute. Jetzt.»
«Ich verstehe nicht. Was hat Ihre Fahrerflucht von damals mit Straftaten von heute zu tun?»
Bruder Vinzenz richtete sich auf. Seine Betroffenheit wich der Entschlossenheit, mit allem aufzuräumen, wofür er sich schuldig fühlte.
«Es gibt da eine Person, die zur Beichte kommt. Sie weiß um meine Tat von damals.»
«Sie werden von ihr erpresst?»
Er nickte.
«Was verlangt Sie von Ihnen?», hakte Kilian nach.
«Informationen.»
«Welche Art von Informationen?»
«Jegliche Art. Hauptsächlich geht es um Personen, die bei mir in die Beichte gehen.»
Kilian schwante Schlimmes. Sollte er auf einen Priester getroffen sein, der das Beichtgeheimnis gebrochen hatte?
«Wofür verwendet sie diese Informationen?»
«Sie nutzt sie zu ihrem Vorteil. Sie nötigt, erpresst und zerstört die Betroffenen damit.»
Jetzt war ihm klar, um wen es sich handelte. Aber Kilian brauchte die Bestätigung.
«Wer ist diese Person?»
«Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es fällt unter das Beichtgeheimnis.»
«Ich weiß, aber geben Sie mir einen Hinweis.»
«Das kann ich nicht tun, selbst jetzt nicht.»
«Warum? Was hat sich geändert?»
«Ich habe heute Nachmittag mein Priesteramt niedergelegt, um mich meiner Verantwortung zu stellen. Der Koffer ist gepackt. Sie können mich gleich mitnehmen.»
«Das heißt, Sie sind kein Priester mehr?»
«Richtig.»
«Dann können Sie doch frei sprechen.»
«Nicht über Vergangenes, nicht über mir Anvertrautes.»
Es war zum Haareraufen. Kilian musste eine andere Taktik versuchen.
«Bevor wir gehen, erzählen Sie mir von dieser Person. Sie brauchen keinen Namen zu nennen, nur, welche Lebensgeschichte sie hat. Daran ist nichts Verfängliches. Sie verletzen das Beichtgeheimnis dadurch nicht.»
Bruder Vinzenz zeigte sich einverstanden, und er begann seine Beschreibung von einem Mädchen, das von den Kriegswirren nach Würzburg verschlagen worden war, in einem Kürschnerbetrieb Arbeit fand und bis zu ihrem Fortgang nach München Kindermädchen war.
«Sie arbeitete als Kindermädchen in der Familie des Kürschners?», unterbrach ihn Kilian.
«So hat man es mir erzählt.»
Ute Mayer war die Tochter eines Kürschners. Es konnte sich folglich nur um eine Person handeln: Hilde Michalik.
Daher also diese tiefe Verbundenheit.
Wie kam es dann dazu, dass Hilde ihr Pflegekind ausspionierte?
«Die junge Frau begann eine Karriere in der Politik», fuhr Bruder Vinzenz fort. «Sie strebte nie ein Amt an, sondern begnügte sich mit der zweiten Reihe. Seltsam, wenn ich heute darüber nachdenke. Dabei hatte sie in den vielen Jahren alle Großen kennengelernt, mit ihnen gearbeitet und Kontakte geknüpft.»
«Sie ist die perfekte Schattenfrau», ergänzte Kilian.
«Wenn Sie sie so nennen wollen … Sie war die Ziehmutter einiger großer Politiker, die in den letzten Jahren die Geschicke des Landes bestimmt haben.»
«Wie haben Sie sie kennengelernt?»
«Eines Tages erschien sie zur Beichte. Sie gab sich sehr gläubig und bereute aus tiefstem Herzen. Ich glaubte ihr. Nachdem ich sie losgesprochen hatte, beklagte sie aber den Zustand der Partei, den Missbrauch der Grundwerte, die die Partei einst geformt haben, und die moralische Verwahrlosung der Männer, die die Partei anführten … Mehr kann ich Ihnen nicht dazu sagen. Es war ohnehin schon viel zu viel.»
Mehr musste Bruder Vinzenz auch nicht sagen. Das, was Kilian gehört hatte, reichte, um sich ein Bild von Hilde Michalik zu machen – eine scheinbar tiefgläubige und vom Politikalltag enttäuschte Frau war auf einem Kreuzzug. Und einer ihrer Knappen war Ute Mayer.
«Wieso hat nun Ihre Unfallflucht noch Auswirkungen auf Straftaten von heute?», wollte Kilian wissen.
«Diese Person erpresst mich mit einem Bild, das eine Verkehrskamera damals in der Nähe des Unfallorts aufgenommen hat. Seitdem muss ich ihr berichten, was der eine oder andere Politiker mir beichtet.»
«Ist das denn so interessant?»
«Über die kleinen Sünden sprechen wir nicht. Es dreht sich mitunter um große, einschneidende Ereignisse, die früher oder später unter dem Druck eines schlechten Gewissens in meinem Beichtstuhl ausgesprochen werden. Gerade wenn sich jemand versündigt hat, so bleibt er doch ein Mensch, der auf die Gnade des Herrn zählen darf.»
«Für welche Straftaten ist sie nun verantwortlich?»
Bruder Vinzenz schaute
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