Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
aus einer anderen Ecke.
«Verflucht, kann mir vielleicht mal jemand sagen, wie viele es waren?», fragte Pasqualino Marchica.
«Einen Moment», unterbrach ihn der Vorsitzende Burruano und zählte an den Fingern ab. «Paolina Cammarata, Antonietta Lo Mascolo, Totina Perricone, die Witwe Cannata, Lorenza Spagna und Filippa Lanza. Das sind sechs.»
Pasqualino Marchica ergriff wieder das Wort.
«… von sechs Mädchen, die …»
«Nein, Pasqualì, die Zählung stimmt nicht!»
«Warum nicht?»
«Wir haben die Tote vergessen, Rosalia Pampina!»
«Aber die ist ja nun tot! Lasst mich doch ausreden! Er hat das Leben von sechs Mädchen ruiniert, die bloß die eine Schuld hatten, dass sie den Pfarrern geglaubt haben! Diese armen Frauen, egal, ob adelig oder arm, können jetzt nur noch Nonnen werden, einen Ehemann finden sie jedenfalls nicht mehr! Der feine Signor Avvocato hat es geschafft, dass ganz Italien über Palizzolo spricht wie über ein Bordell! Nein, dieser Mann kriegt nichts richtig hin. Und darum sage ich Nein!»
Nach einer dreistündigen Debatte lehnte der Gemeinderat den Vorschlag des Bürgermeisters ab.
«Montagnet hatte recht», sagte Teresi zu Stefano, als sie beim Essen saßen. «Der Wind schlägt um. Die Stimmung hat sich ins Gegenteil verkehrt.»
«Aber Ihr wolltet nicht recht dran glauben, denn Ihr habt ja noch einmal versucht, Mitglied im Verein zu werden. Wenn Ihr erwartet hättet, dass sie Euch auf die eine oder andere Weise ablehnen, hättet Ihr keinen Aufnahmeantrag gestellt.»
«Auch du hast recht. Ich habe Montagnet nicht geglaubt. Ich dachte, meine Mitbürger würden sich ein bisschen dankbar erweisen. Im Gegenteil. Keine Mitgliedschaft im Verein, kein Ritterkreuz.»
«War Euch das so wichtig?»
«Hm, teils ja, teils nein.»
«Wisst Ihr, worin Eure größte Schuld besteht, Onkel? Darin, dass Ihr ein Idealist seid.»
«Das soll eine Schuld sein?»
«Wenn Schuld Euch nicht gefällt, nennen wir es einen Fehler.»
«Da gibt es noch etwas. Heute bin ich zur Bank gegangen, und man hat mir gesagt, der Direktor wolle mich sprechen. Er hat mir keine Sekunde lang in die Augen geschaut, er hat nur gesagt: ‹Danke.› Und ich: ‹Danke wofür?› Er: ‹Dafür, dass Sie mein Leben und das meiner Familie zerstört haben. Ich hoffe, dass man mich so bald wie möglich versetzt.› Der Ärmste, er hat mir sehr leid getan! Aber was habe ich damit zu tun? Ich wusste nicht mal, dass seine Tochter Filippa eines von diesen armen, unglücklichen Mädchen war! Den Namen hat die Witwe Cannata genannt, aber schuld bin immer nur ich!»
Er warf seine Serviette auf den Tisch und ging auf den Balkon hinaus.
Der Abend war warm, dunkel, aber sternenklar. Teresi zog eine Zigarre aus seiner Westentasche und zündete ein Streichholz an.
Die Pistolenkugel flog so dicht an ihm vorbei, dass das Streichholz erlosch.
VIERZEHNTES KAPITEL
Wie die Geschichte endete
Am nächsten Morgen war Wochenmarkt.
Wie schon seit jeher ließ Teresi sich dieses allwöchentliche Ereignis nicht entgehen, obwohl der Schuss von gestern Abend ihn einige Stunden Schlaf gekostet hatte. Man kann so mutig sein, wie man will, aber eine Kugel, die einem dicht am Kopf vorbeifliegt, macht doch ein bisschen nervös. Angst spürte er aber nicht, denn er hatte schon lange etwas Ähnliches erwartet. Früher oder später schießen sie auf mich, dachte er oft, wenn die hitzigen Polemiken, die er in seiner Zeitung entfachte, unangreifbare Interessen angriffen oder trübe Gewässer aufwühlten.
Er liebte es, zwischen den Marktständen umherzuschlendern, vor allem unterhielt er sich gerne mit den Händlern, die in sieben Tagen durch die ganze Provinz zogen und daher mehr Dinge erfuhren als der Präfekt selbst. Und weil sie Teresi gut kannten, erzählten sie ihm alles aus den Orten, durch die sie gekommen waren: wer wem Hörner aufgesetzt und wer Streit miteinander hatte, wer betrogen, geheiratet oder Kinder bekommen hatte und wer gestorben war. Die Marktleute waren viel besser als lokale Korrespondenten, die seine Zeitung sowieso nicht besaß. Manche dieser Geschichten waren richtige Fortsetzungsromane, von einer Woche zur anderen wurden ihm die neuesten Entwicklungen berichtet.
Doch als er an diesem Morgen zwischen den Leuten spazierte, die vor den Ständen stehenblieben, spürte er, dass etwas um ihn herum anders war. Eine kaum wahrnehmbare Veränderung, aber sie war da. Ein allzu flüchtiger Blick, ein nur halbes Lächeln, ein abgebrochener
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