Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Satz.
Er bemerkte auch, dass ihm, während er sich sonst immer mit den Schultern einen Weg durch die Menge bahnen musste, die Leute jetzt ein wenig auswichen, als wollten sie vermeiden, ihn zu streifen.
«Sie wissen es», dachte er.
Als er gestern Abend vom Balkon hinunter auf die Straße gespäht hatte, war er absolut sicher gewesen, dass niemand dort war. Und gleich nach dem Schuss hatte er kein einziges Fenster gehört, das geöffnet oder geschlossen wurde. Wie hatte das Geräusch des Schusses dann allen zu Ohren kommen können?
«Avvocato Teresi!»
Er drehte sich um, es war ein Carabiniere.
«Ich habe Sie gesucht, und Ihr Neffe hat mir freundlicherweise gesagt, dass ich Sie hier finden würde.»
«Was gibt es?»
«Maresciallo Sciabbarrà möchte Sie sprechen.»
«Darf ich erfahren, warum Sie heute Morgen auf den Markt gegangen sind, statt zur Polizeistation zu kommen?»
«Warum hätte ich denn kommen sollen?»
«Um Anzeige wegen des Vorfalls gestern Abend zu erstatten.»
«Welcher Vorfall?»
«Ist Ihnen gestern Abend nichts zugestoßen?»
«Absolut nichts», sagte er mit verwunderter Miene.
«Ich verstehe», sagte der Maresciallo. «Dann bedeutet das, dass ich reden werde, einfach um des Redens willen.»
«Tun Sie das, wenn Sie Lust dazu haben und es Ihnen Spaß macht.»
«Ich habe keine Lust dazu, und es macht mir auch keinen Spaß. Ich finde nichts Amüsantes daran. Wenn Sie sich über einen Pistolenschuss amüsieren können, der Ihnen das Streichholz ausbläst, mit dem Sie sich gerade eine Zigarre anzünden, ist das Ihre Sache. Ich tue nur meine Pflicht.»
Teresi staunte. Woher wusste der Maresciallo sogar das Detail mit dem Streichholz? Er musste nicht erst fragen.
«Dieses Städtchen, verehrter Avvocato, ist wie eine schlafende Katze. Ihre Augen sind geschlossen, sie rührt sich nicht, und man glaubt, sie schläft. Irrtum, denn die Katze zählt gerade die Sterne am Himmel. Darum erfährt man in diesem Städtchen alles von jedem, etwas zu verbergen ist unmöglich. Ich verstehe trotzdem sehr gut, warum Sie keine Lust haben, Anzeige zu erstatten. Soll ich es Ihnen sagen?»
«Sagen Sie es mir.»
«Erstens sind Sie völlig zu Recht überzeugt, dass es hieße, ein Loch in die Luft bohren zu wollen, wenn Sie Anzeige erstatten und ich mit den Ermittlungen beginne. Zweitens gäbe es mit einer Anzeige wohl oder übel wieder mehr Gerede über Sie, und Sie haben es bitter nötig, dass um Sie herum so bald wie möglich ein wenig Ruhe einkehrt.»
«Sie sind sehr klug, Maresciallo.»
«Danke. Doch ich rede weiter um des Redens willen und sage, wenn Sie ein wenig Ruhe brauchen, dann heißt das noch lange nicht, dass die anderen Ihnen diese Ruhe gewähren wollen. Die ewige Ruhe vielleicht, aber ein paar Monate Ruhe wahrscheinlich nicht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?»
«Ich habe nicht ganz verstanden.»
«Avvocato, wer gestern Abend auf Sie geschossen hat … nein, sagen wir lieber, wer gestern Abend auf einen Mann geschossen hat, der auf einem Balkon stand und sich gerade eine Zigarre anzündete …»
«… und ihn verfehlt hat …»
«Glauben Sie das wirklich? Avvocato, überlegen Sie doch mal, der hat doch absichtlich vorbeigeschossen! Mit dem nächsten Schuss hätte er den Mann auf dem Balkon getötet. Das hat er nicht getan. Er hat es nicht getan, weil er den Mann warnen wollte. Die Kugel, die dicht an Ihnen vorbeiflog, hat zu Ihnen gesprochen. Und sie kann nichts anderes gesagt haben als zwei Sachen. Die erste könnte so lauten: ‹Was du getan hast, hast du getan. Doch von jetzt an pass auf, wie du dich bewegst.› Habe ich mich diesmal verständlicher ausgedrückt?»
«Vollkommen. Und die zweite?»
«Die zweite könnte sein: ‹Pack deine Koffer und verlass diese Stadt, bevor es zu spät ist.› Ist das klar?»
«Sonnenklar. Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit. Ach ja, haben Sie Nachricht von Capitano Montagnet?»
«Ich habe erfahren, dass der Capitano gestern Abend abgereist ist, um seine neue Stelle anzutreten. Er wurde zum Maggiore befördert und geht nach Alessandria im Piemont. Das wird ihm gefallen.»
Und so war ihm ein Freund genommen, auf den er sich hatte verlassen können.
«Habt ihr schon gehört?» Don Anselmo kam in höchster Eile in den Verein gelaufen.
«Wir haben es gehört», tönten Don Serafino Labianca, Don Stapino Vassallo und Commendator Padalino im Chor. Sie waren die einzigen Mitglieder im Vereinslokal.
«Der Avvocato hat zù Carmineddru durch
Weitere Kostenlose Bücher