Die seltene Gabe
Betriebskrankenkasse, und irgendwie fielen mir dabei die Polizisten ein mit der Maschinenpistole und dem Monsterhund und was man schon so im Fernsehen gesehen hat darüber, was alles blöd laufen kann bei Geiselnahmen, und ich stopfte es auch noch in die Tasche. »Wie sieht es aus?«, wollte Armand wissen, als er fertig war. Nicht einmal wenn er ein Wischmopp gewesen wäre, hätte man seinen Haarschnitt akzeptieren können. »Du solltest den Friseur verklagen«, riet ich ihm nach einem kurzen Blick und packte noch zwei Handtücher ein. Er seufzte und legte die Schere beiseite. »Was für ein Glück, dass es Perücken gibt.« Er ging zu Mutters Frisierkommode und ich musste ihm beim Aufsetzen der Perücke helfen. Es war tatsächlich verblüffend, wie vollkommen anders er aussah mit blonden Locken. Dass sein dunkles Haar darunter durchschimmerte, machte überhaupt nichts. Er sah damit einfach aus wie manche Typen bei uns an der Schule, die sich aus einer Laune heraus knallblond färben lassen und später natürlich nicht im Traum daran denken, die dunkel nachwachsenden Ansätze nachzubleichen. Ich wagte es kaum, vor mir selber zuzugeben, aber mit der Perücke hatte Armand eine verblüffende Ähnlichkeit mit Dominik! Ausgerechnet! Ich packte noch ein paar Klamotten ein, was mir halt in der Eile unter die Finger kam, dazu die eine oder andere Kleinigkeit, die man als Frau eben so braucht. Armand plünderte derweil hemmungslos die Speisekammer. Anschließend wollte ich mich selber auch umziehen, denn ich war der Meinung, für eine Entführung nicht passend gekleidet zu sein. Es bedurfte einer weiteren lautstarken Auseinandersetzung, bis Armand einverstanden war, dass ich das in der Abgeschiedenheit meines Zimmers tat. »Ich hüpfe schon nicht aus dem Fenster«, erklärte ich. »Aber vielleicht schreist du die Nachbarschaft zusammen. Wie du so schön gesagt hast – die nächsten drei Häuser, Minimum«, sagte er. Schließlich einigten wir uns darauf, dass die Zimmertür ein Stück weit offen blieb, sodass er vom Flur aus das Fenster im Auge behalten konnte und den Schreibtisch, der darunter stand. Außerdem nahm Armand mit den Worten »Heimlich telefonieren muss auch nicht sein« mein Handy an sich, das mitten auf der Schreibunterlage gelegen hatte. Heimlich zu telefonieren wäre tatsächlich keine schlechte Idee gewesen. Während ich mich umzog, fiebrig die Vor-und Nachteile meiner diversen Jacken, Pullover und Hosen für die besondere Situation einer Entführung abwägend, durchwühlte ich hastig den Kleiderschrank und suchte überall da, wo Armand mich nicht sehen konnte, nach irgendwelchen Gegenständen, die meine Chancen, diesen Alptraum heil zu überstehen, verbessern mochten. Aber was wollte ich anfangen mit, sagen wir, einer Kleiderbürste, einem Dinosaurier-Filzstift oder einer Sammlung abgegangener Knöpfe? Mein Pfefferspray hätte ich jetzt brauchen können, aber das lag seit Jahren unbenutzt irgendwo, und mein Taschenmesser war genauso unauffindbar. Eine Botschaft, ich musste zumindest eine Botschaft an meine Eltern hinterlassen. Ich zückte hastig den Dinosaurier-Filzstift und schrieb auf den Spiegel, der innen an der Tür meines Kleiderschranks befestigt war. Filzstift auf Spiegel, das geht absolut lautlos:
Heute ist hier ein gewisser Armand Duprée eingedrungen, der auf der Flucht ist. Er ist Telekinet. Er zwingt mich ihn zu begleiten, keine Ahnung, wohin. Ich passe auf mich auf, aber falls mir etwas passieren sollte . . .
»Wie lange dauert denn das?«, maulte Armand draußen mit spürbarer Ungeduld. »Ich bin gleich fertig«, erwiderte ich, streifte eilig die Jacke über und überlegte fieberhaft, was denn sein würde, falls mir etwas passieren sollte . Was ich denn verfügen wollte für diesen Fall. Doch mir fiel nichts ein. Ich sah mich außer Stande, sozusagen innerhalb von zehn Sekunden mein Testament zu schreiben. Also wischte ich den letzten Teil des Satzes wieder weg und kritzelte stattdessen hin: Ich passe auf mich auf. In Liebe, Marie. Was man halt so schreibt. »Was verstehst du unter ›gleich‹?«, drängelte Armand. Mein Blick fiel auf ein winziges Fläschchen Parfüm, das seit Jahren unbeachtet und unbenutzt neben meinen Winterhandschuhen lag. Eins von diesen Wichtelgeschenken, bei denen man nach dem Auspacken eher gequält lächelt, wenn ich mich recht entsinne. Aber Parfüm! Das hieß, reiner Alkohol. Alkohol konnte verheerende Dinge anrichten an den richtigen Körperstellen, in den
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