Die seltene Gabe
hättest. Er hat ein...wie sagt man? Ein Feuermal. Pierre hat es um das rechte Auge herum, ziemlich groß, dunkelviolett. Und wenn er einen ansieht, tut einem das regelrecht weh.« Er nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Andererseits, dass du ihn nicht getroffen hast, beweist nicht, dass er nicht trotzdem da ist. Was ist mit Autos? Sind dir Autos mit französischen Kennzeichen aufgefallen?« Ich nickte. »Vorn weiße und hinten gelbe Nummernschilder, nicht wahr? Jede Menge.« »Das habe ich befürchtet«, murmelte Armand. Er sprang auf und begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Pierre auftaucht. Mit anderen Worten, ich muss so schnell wie möglich von hier verschwinden.« Dies war der Abend meines unaufhörlichen Nichtverstehens. »Wieso? Was hat es mit diesem Pierre auf sich?« »Er ist Telepath, und er hasst mich. Und im Unterschied zu den anderen kann er mir wirklich gefährlich werden. Sie werden mit ihm durch die ganze Stadt fahren, damit er in jedem Haus in alle Gedanken seiner Bewohner hineinhorcht, denn das ist die einzige Möglichkeit, mich schnell und zuverlässig aufzuspüren.« Mich schauderte. »Warum hasst er dich?« »Weil er jeden Menschen hasst, sogar sich selbst«, erklärte Armand schulterzuckend. »Vielleicht passiert das allen Leuten, die Gedanken lesen können, keine Ahnung.« Er schien jetzt fieberhaft nachzudenken, feilte wohl an einem Fluchtplan. Mit spürbarer Unruhe trat er vor den Flurspiegel und betrachtete sich. »Mein Steckbrief ist inzwischen zu bekannt. Ich muss mich ir gendwie verkleiden . . .« Er drehte sich abrupt zu mir um und fragte: »Sag mal, du hast doch bestimmt Geld im Haus?« Oha!, dachte ich und sagte: »Wie bitte?« »Komm. Deine Eltern müssen dir Haushaltsgeld dagelassen haben, wenn sie ohne dich verreisen.« »Wie kommst du auf die Idee, meine Eltern seien verreist?«, fragte ich streitsüchtig zurück. Ihn schien die Frage zu wundern. »Ein Haus verrät eine Menge über seine Bewohner, was denkst du denn? Ein einzelner Teller, der noch vom Frühstück dasteht. Eine hauchdünne Staubschicht auf den sorgfältig gemachten Betten deiner Eltern. Zwei staubfreie Rechtecke neben dem kleinen Koffer im Abstellraum. Ein Zettel bei den Blumen im Wohnzimmer, auf dem steht, ›Marie, denk an den Gummibaum im Arbeitszimmer‹. Und im Arbeitszimmer eine Sammlung ungeöffneter Post, an deinen Vater adressiert und dem Poststempel nach zum Teil schon eine Woche alt. Schätzungsweise sind deine Eltern seit einer Woche weg, und vermutlich kommen sie auch erst in einer Woche zurück, stimmt’s?« »Nächsten Donnerstag, ja«, nickte ich, verblüfft über so viel scharfe Beobachtung. »Na also.« Es schien ihn nicht einmal zu wundern, dass er Recht gehabt hatte. »So eine Flucht ist nicht nur anstrengend, sondern auch verdammt teuer, kann ich dir sagen.« Er klang, als sei es schon ausgemachte Sache, dass ich ihm helfen würde. Er musterte sich wieder eingehend im Spiegel. »Hmm – die Hose kann bleiben, aber ich brauche eine andere Jacke und am besten auch einen anderen Pullover . . . Dein Vater hat doch sicher ein paar Sachen, die er nicht mehr braucht, oder?« Ich fühlte mich nicht so richtig dafür zuständig, das zu entscheiden, aber wenn ich ihn dadurch loswurde, meinetwegen. Und von mir aus sollte er auch noch einen Hunderter von meinem Haushaltsgeld abbekommen, vielleicht war das ja sogar eine gute Tat. »Ich kann mal nachsehen«, meinte ich lahm. »Tu das.« »Wieso sprichst du eigentlich so gut Deutsch?«, fragte ich. Es passte nicht richtig in den Zusammenhang, aber ich fragte mich das schon die ganze Zeit. »Ich dachte immer, Franzosen lernen keine Fremdsprachen.« »Da ist was dran. Wir haben keinen so guten Fremdsprachenunterricht wie ihr, aber meine Mutter ist Deutsche. Und außerdem Deutsch lehrerin . Keine Chance, ohne Deutsch davonzukommen.« »Und wieso bist du ausgerechnet hierher gekommen? Und wieso in unser Haus?« Er zuckte mit den Schultern. »Zufall. Man trampt, nimmt irgendwelche Busse oder Bahnen . . . Ich bin da oben bei euch aus dem Wald gekommen, von dem Parkplatz an der Schnellstraße auf der anderen Seite des Hügels. Ehrlich gesagt, als ich euer Haus sah, dachte ich erst, da ist überhaupt niemand zu Hause.
Weil es irgendwie so aufgeräumt dalag. Die Jalousien alle genau gleich weit heruntergelassen, kein Fenster offen, und so weiter. Und es war das erste Haus in der Straße.« »Verstehe«, murmelte
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