Die seltene Gabe
hielt. »Hält der Bus direkt vor dem Bahnhof?«, wollte Armand wissen, nachdem er seinen Blick von ihr losgerissen und auf den Fahrplan gerichtet hatte, wo, anbei bemerkt, genau das schwarz auf weiß stand. »Wenn er nicht gerade entführt wird, schon«, versetzte ich missgelaunt. Wie sich herausstellte, dauerte es noch sechs Minuten, bis der nächste Bus kam. Wir stellten uns ein paar Schritte weiter weg an den Fahrbahnrand und warteten. Ich betrachtete nachdenklich die großen grauen Wohnblöcke auf der anderen Seite der Straße, düstere Klötze, die gesprenkelt waren mit warm leuchtenden Rechtecken. In manchen Fenstern flackerte auch nur das geisterhafte bläuliche Licht, das ein eingeschalteter Fernsehapparat verbreitet. Ich sah auf die Uhr. Eben hatten die Abendnachrichten im ZDF angefangen. Eine der Meldungen würde sich vielleicht mit Armand und der Suche nach ihm befassen. Nein, ganz sicher – sie würden seine Beschreibung durchgeben und ein Foto zeigen und die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Diese Vorstellung faszinierte mich. »Hast du das mitgekriegt?«, sagten in diesem Augenblick fünfzig oder hundert Menschen hinter den erleuchteten Fenstern, zu denen ich aufsah. »Das ist doch bei uns! Der spricht von unserer Stadt! Hast du die Haustüre abgeschlossen?« Und ich stand hier unten auf der Straße und der, den sie alle suchten, stand neben mir. In was für merkwürdige Situationen man geraten kann, dachte ich. »Der Bus kommt«, sagte Armand in diesem Moment. Majestätisch kam er herangerollt, hell erleuchtet und durchsichtig, und hielt mit quietschenden Reifen und zischend aufklappenden Türen vor uns. Er war nur schwach besetzt, was Armand zu einem unwilligen Brummen veranlasste. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, er wäre rappelvoll gewesen, aber das gibt der Busverkehr hier am Stadtrand beim besten Willen nicht her. Mein Entführer ließ mir den Vortritt und überließ es mir auch, die Fahrkarten für uns zu lösen. Ich warf, während ich bezahlte, dem Busfahrer wild rollende, bedeutsame Blicke zu und verzog den Mund zu Grimassen – was halt so geht, wenn jemand hinter einem steht und nichts davon merken darf –, aber der Kerl glotzte mich nur stumpfsinnig an, strich das Geld ein und meinte: »Du hast was an den Augen.« Ich ließ es. »Danke für den Hinweis«, sagte ich. Hoffentlich klang es sarkastisch. Armand dirigierte uns auf die Sitzbank direkt am Hinterausgang und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, den Fensterplatz zu nehmen. Das aufgetakelte Mädchen setzte sich ganz vorne hin. Ich sah, wie Armand die übrigen Fahrgäste misstrauisch musterte, aber keiner nahm besondere Notiz von uns. »Was wollte er denn?«, fragte er halblaut. »Nichts«, sagte ich. »Scheint bloß ein Idiot zu sein.« Genau in dem Moment, als der Bus losfuhr, sah ich eine Polizeistreife mit zwei Hunden aus einer kleinen Quergasse kommen und gemächlich auf die Bushaltestelle zusteuern. War es zu fassen? Und was um alles in der Welt sollte ich jetzt tun?! Nichts, natürlich. Armand sah sie auch und er hob unmerklich die Hand, so, als wolle er bereit sein mich festzuhalten, wenn ich etwa versuchte aufzuspringen und mit den Armen zu rudern oder mich sonst irgendwie auffällig zu benehmen. Es wunderte mich, dass er das tat. Hatte er nicht behauptet, alles mit der Kraft seines Geistes bewerkstelligen zu können? Leuten telekinetisch die Herzkranzgefäße zudrücken und so weiter? War das am Ende bloß Aufschneiderei? Ich musterte ihn verstohlen von der Seite und musste an die Jungs in der Schule denken und was für entsetzliche Angeber sie alle waren. Große Klappe, aber nie was dahinter. Warum sollte Armand eine Ausnahme sein? Vielleicht war der Trick mit den Münzen alles, was er draufhatte. Und ich war ihm auf den Leim gegangen, hatte ihm jedes Wort seiner Akte X -Story geglaubt. Schön blöd, wenn das am Ende so herauskam. Wie man über mich lachen würde! Ich würde mich nicht nur nicht mehr in der Schule blicken lassen können, ich würde eine Gesichtsoperation brauchen, einen anderen Namen und ein lateinamerikanisches Land, in dem ich untertauchen konnte. Doch bis ich mir das alles so weit überlegt hatte, war der Bus schon ums Eck. Ich starrte durch die Scheiben hinaus, in denen sich das erleuchtete Innere des Fahrzeugs spiegelte und mit dem Straßenbild vermischte, und dachte nach. Das würde sowieso nicht funktionieren. Vor einer Übermacht an Polizei fliehen, das konnte man vielleicht mit einem schnellen
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