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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Ich kann das mit deinem Kopf machen, wenn es sein muss. Ich hatte Angst. Und dass ich Angst hatte, machte mich wütend. Armand verfügte über mein Leben wie die Wissenschaftler seines Instituts über das seine verfügt hatten, und mir gefiel das genauso wenig wie ihm.
    Falls dieses Institut wirklich existierte. Ach, verdammt, ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte! Armand lotste mich an den Polizisten vorbei, mitten in die Halle hinein, wo er stehen blieb und ungerührt die große Anzeigetafel studierte. »Stuttgart, in sechs Minuten«, las er die erste Zeile. »Gleis eins, gleich dort vorne raus. Den nehmen wir.« »Was willst du denn in Stuttgart?«, maulte ich. »Mich ins Nachtleben stürzen«, erwiderte er und dirigierte uns in Richtung Fahrkartenschalter. »Los, kauf zwei Karten.« Ich kramte mein Geld hervor und lugte dabei verstohlen zu den Polizisten hinüber. Waren die eigentlich mit Blindheit geschlagen oder was? Hier, hier war der Kerl, den alle Welt suchte, vor ihren Augen! Und was taten sie? Sie hatten einen mageren Jungen mit halblangem braunem Haar angehalten und ließen sich seinen Ausweis zeigen, überprüften ihn sogar per Funk. Vielleicht sollte ich versuchen, Armand die Perücke vom Kopf zu reißen. Ganz zufällig daran hängen bleiben, irgendwie, und dann ein Ruck, und bestimmt würden alle Leute gucken . . . Ich musste nur auf den geeigneten Moment warten. Überhaupt, wieso sechs Minuten? Fünf waren es nur noch. In dem Augenblick, als ich hinsah, sprang der Zeiger der Bahnhofsuhr auf den nächsten Teilstrich. Das würde sowieso nicht reichen. Beide Fahrkartenschalter waren besetzt. Nie im Leben.
    Dass man Fahrkarten auch im Zug kaufen konnte, brauchte ich Armand ja nicht auf die Nase zu binden. Wir stellten uns an beiden Schaltern an. Vor Armand stand eine ältere Frau, die mit zahllosen Einkaufstaschen, Handtaschen und Geldbeuteln herumfuhrwerkte und, wie es schien, mindestens eine Weltreise plante. Vor mir fing ein Pärchen damit an, ein Formular auszufüllen, wobei sie über jeder zweiten Zeile ausgiebig beratschlagten. Noch vier Minuten. Ich bemühte mich, nicht vor Schadenfreude zu grinsen. Keine Chance, Mister Telekinet. Und der nächste Zug ging erst wieder in einer halben Stunde. Bis dahin konnte viel passieren, sehr viel . . . Armand verschränkte die Arme. Die Ruhe weg hatte er, das musste der Neid ihm lassen. »Zur Not«, sagte er unvermittelt zu mir, »kaufen wir die Karten im Zug.« »Ah«, machte ich verdattert. »Kann man das?« »Machen viele«, nickte er und warf einen kurzen Blick in Richtung Staatsgewalt, gerade so, als beruhige es ihn, dass hier so gut aufgepasst wurde. Doch die Dame mit der Weltreise war auf einmal fertig, Armand trat an den Tresen und verlangte zwei Karten nach Stuttgart, zweiter Klasse, und schnell, wenn’s ginge. Er winkte mir, zu ihm zu kommen und den Spaß zu bezahlen, und gleich darauf blieb nur noch, hinaus aufs Gleis zu gehen, wo der Zug gerade einfuhr. Ein letzter Blick auf die beiden Polizisten: Sie unterhielten sich in aller Gemütsruhe. Und dann stand ich in einem anfahrenden Zug, sah jenseits der Zugfenster meine Heimatstadt davonziehen und hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was nun werden sollte. »Warst du schon mal in Stuttgart?«, fragte Armand. »Ein, zwei Mal«, erwiderte ich unbehaglich. Ein Schulausflug hatte in den Zoologischen Garten geführt, und mit meinen Eltern war ich einmal auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. »Aber das ist lange her. Ich kenne mich nicht aus, falls du das meinst.« Armand nickte. »Macht nichts. Komm, suchen wir uns einen Platz.« Es war ein gewöhnlicher Nahverkehrszug aus lauter uralten Großraumwaggons, mit engen, nicht besonders bequemen Sitzbänken rechts und links des Mittelgangs. Er war gut besetzt. Wir mussten eine Weile suchen, bis wir in einem Nichtraucherabteil zwei nebeneinander liegende freie Sitzplätze fanden. Diesmal nahm Armand den Fensterplatz und stieß dabei an die Knie des zeitunglesenden Herrn auf dem Sitz gegenüber, was ihm einen verweisenden Blick eintrug. »Du weißt nicht zufällig, wann wir in Stuttgart ankommen?«, fragte Armand, von verweisenden Blicken nicht zu beeindrucken. »Ungefähr, meine ich?« »Nein«, erwiderte ich kurz angebunden. »Um zwanzig Uhr neunundvierzig«, warf der zeitunglesende Herr gegenüber von Armand ein. »Elf Minuten vor neun.«
    Armand sah ihn überrascht an. »Oh«, meinte er. »Vielen Dank.« »Keine Ursache«, erwiderte der Mann steif und

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