Die seltene Gabe
jeden Augenblick die Sonne aufgehen, dann wieder kam es mir so vor, als könnten wir noch keine hundert Meter zurückgelegt haben. Ich war müde. Vielleicht bin ich im Gehen ein paar Mal eingenickt, ohne es zu merken. Aber dann hörte ich plötzlich etwas, das mich im Nu wieder hellwach werden ließ. »Armand!« Er blieb stehen und drehte sich um. »Was ist los?« »Ich glaube, ich habe Hundegebell gehört.« »Oh«, machte er. »Bist du sicher?« »Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.« Es war nichts dergleichen zu hören. Womöglich hatte ich im Gehen geträumt. Armand schaltete die Taschenlampe aus. »Bleiben wir eine Weile stehen. Vielleicht hören wir es noch einmal.« Wir standen vielleicht fünf Minuten regungslos im Dunkeln und lauschten angespannt, ohne mehr zu hören als das Rauschen des Windes. Aber dann hörten wir es beide: das Kläffen eines oder zweier Hunde, sehr weit entfernt, aber aus der Richtung, aus der wir kamen. »Sie verfolgen uns mit Hunden«, zischte ich, unwillkürlich flüsternd. »Ich habe mal gelesen, gut erzogene Suchhunde verfolgen ihre Spur ohne einen Laut«, murmelte Armand wie im Selbstgespräch. »Und man sieht keine Lichter oder so etwas. Die Hundeführer müssten doch Lampen tragen.«
»Vielleicht sind sie noch zu weit weg«, sagte ich. »Und vielleicht sind die Hunde nicht so gut erzogen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie unserer Witterung folgen sollen«, erwiderte Armand. »Wir haben doch nichts zurückgelassen, an dem sie riechen könnten, oder?« »Nichts außer einem Abteil, in dem wir ein paar Stunden lang gesessen sind.« »Oh ja, stimmt. Aber das ist unterwegs nach Dresden.« Er zögerte. »Sollte es zumindest sein.« Seufzend knipste er die Lampe wieder an. »Komm, gehen wir weiter.« Wir setzten unseren Weg fort, leiser und vorsichtiger als vorher, und wesentlich eiliger. Armand hielt die Hand über die Taschenlampe, sodass nur noch ein schmaler Lichtstreifen auf den Boden vor uns fiel, gerade genug, um zumindest ein paar Schritte weit erahnen zu können, wohin wir unsere Füße setzten. Das Bellen verlor sich erfreulicherweise nach und nach, doch dafür wurde in weiter Ferne ein anderes Geräusch allmählich lauter, ein röhrendes, verzerrtes Knattern, das mir zuerst überhaupt nicht auffiel, weil ich so angestrengt auf Hundegebell gelauscht hatte. Erst als Armand plötzlich stehen blieb, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los?«, fragte ich und bemerkte im selben Moment, was los war. »Hubschrauber!?« »Ja«, sagte Armand und funzelte mit der Lampe über den Boden. »Jetzt brauchen wir ein Versteck.« In der Dunkelheit war schwer auszumachen, woher das wummernde Geräusch kam, doch als ich mich umschaute, sah ich sie – weiße und rote Lampen, die in der Nacht blinkten und sich unverkennbar auf uns zubewegten. Hubschrauber, drei Stück. »Aber es ist stockfinster«, entfuhr es mir. »Die sehen doch nicht einmal, wohin sie fliegen.« »In solchen Fällen tragen die Piloten Infrarotsichtgeräte, mit denen sie nachts so gut sehen wie am Tag«, meinte Armand. »Im Institut habe ich so ein Ding mal in der Hand gehabt.« Ich nickte, was Armand natürlich nicht sehen konnte. Ich kannte das aus Filmen. Aber in Wirklichkeit damit zu tun zu bekommen war doch etwas anderes. Der Lichtstrahl der Taschenlampe blieb an einer Art Busch hängen, unter dem man eine Vertiefung im Boden erahnen konnte. »Verstecken wir uns dort«, schlug Armand vor. Wir huschten zu dem Strauch hinüber und krochen darunter. Die Äste und Zweige trugen ziemlich unangenehme Dornen; ein paar davon fuhren mir über die Backe und ritzten mir die Haut auf. Ich stieß ein verärgertes »Aua, verdammt!« aus, weil es wehtat. Als ich mir nervös die Lippen leckte, spürte ich einen salzigen Geschmack im Mundwinkel. »Was ist los?«, fragte Armand. »Ein paar dieser verdammten Dornen hätten mir fast ein Auge ausgekratzt.« »Ich habe voll in welche hineingelangt. Wahrscheinlich blutet meine Hand.«
»Warte, nimm ein Taschentuch«, erwiderte ich, unwillkürlich schreiend im Lärm der näher kommenden Hubschrauber. Ich begann, in meiner Tasche nach der Packung Papiertaschentücher zu kramen, die ich vorhin noch gehabt hatte. Das Dröhnen der Rotoren wurde mit jedem Herzschlag lauter und versprach, demnächst unerträglich zu werden. »Hier!«, schrie ich endlich und streckte das Taschentuch dorthin, wo ich Armand vermutete. Und von irgendwoher
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