Die seltene Gabe
berührte seine Hand die meine, tastete sich daran entlang, und ich hatte den Eindruck, dass sie zögerte, das Papiertuch zu nehmen und mich wieder loszulassen. Die Maschinen flogen sehr tief und sehr langsam. Es war schwer zu schätzen, wie nahe sie an uns vorbeizogen, aber es waren bestimmt nur wenige hundert Meter. Wir sahen nicht nur ihre Positionslichter, es kam uns auch vor, als könnten wir die Umrisse der Hubschrauber gegen den dunklen Nachthimmel erahnen. Doch sie zogen vorbei. Sie hielten nicht an, um zum Beispiel Suchscheinwerfer auf uns zu richten, sie drehten auch keine Schleife, um zurückzukehren und uns einzukreisen, sie flogen einfach so langsam und so tief davon, wie sie gekommen waren. Sie schienen uns nicht gesehen zu haben. Vielleicht hatten sie uns nicht einmal gesucht. Es war unangenehm, in der Dunkelheit auf dem kalten, feuchten Boden zu liegen und bei jeder Bewegung gegen Stacheln und Dornen zu stoßen. Trotz dem blieben wir liegen, bis von den Hubschraubern nichts mehr zu hören und auch nichts mehr zu sehen war. Dann knipste Armand die Taschenlampe wieder an und begann behutsam unter dem Busch hervorzurobben. »Lass uns in dem Gebiet bleiben, das sie gerade überflogen haben«, meinte er im Aufstehen. »Sicher kontrollieren sie nicht zweimal dassselbe...« Er hielt inne und ich sah, wie die Beine unter ihm wegknickten und er ohne einen weiteren Ton vornüber zu Boden sank. »Armand?!« Ohne Rücksicht auf Dornen und Stacheln kroch ich ins Freie, eilte zu ihm und beugte mich über ihn. Er schien bewusstlos zu sein. Ich griff hastig nach der Taschenlampe, die ihm aus der Hand und ins Gras gefallen war, leuchtete seinen reglosen Körper ab. Flatternde Furcht erfüllte mich. Himmel, was machte man in so einem Fall noch mal? Es kam mir vor, als hätte ich schon hundertmal gehört, gelesen, gesagt bekommen, was man tun muss und was man nicht tun darf, wenn jemand reglos vor einem liegt, aber alles, was ich je gewusst hatte, war wie weggeblasen. Musste ich jetzt Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Herzmassage? Musste ich ihn auf den Rücken drehen, oder durfte ich genau das unter keinen Umständen tun? Ich legte die Lampe wieder weg, nestelte an Armand herum, versuchte zu hören, ob er noch atmete. »Lass nur«, hörte ich ihn da auf einmal murmeln. »Es geht schon wieder.« Er schien wieder zu sich zu kommen. »Du warst bewusstlos!«, rief ich erschrocken. So, wie ich es sagte, muss es wie ein Vorwurf geklungen haben. »Nur ein kleiner Schwächeanfall.« Er schüttelte meine Hände ab. »Ich bin gleich wieder in Ordnung.« »Es ist diese Droge, nicht wahr? Dieses Antipsychen. Verdammt, Armand, hör endlich auf, so zu tun, als gäbe es nichts, was dir etwas ausmacht. Du kannst nicht mehr so weitermarschieren, nicht in deinem Zustand!« »Soll ich etwa hier liegen bleiben?«, erwiderte er matt und setzte sich mühsam auf. »Natürlich nicht. Wir müssen irgendwo unterkommen, wo es warm ist und wo du dich ausruhen kannst, bis es dir besser geht . . .« »Schön, und wo soll das sein?« Ich hätte darauf gerne etwas gesagt, ich wusste nur nicht, was. Er hatte ja Recht. Es sah trostlos für uns aus. »Ich verstehe das nicht«, murmelte ich schließlich niedergeschlagen. »Bei uns zu Hause könnte man nie so lange in der Gegend herumlaufen, ohne auf eine Scheune, ein Haus oder wenigstens eine Straße zu stoßen.« »Oder eine Polizeistreife.« Armand stand auf, etwas wacklig, aber er blieb stehen. Ich hob die Taschenlampe auf und wollte sie ihm wiedergeben, als ich sah, dass er die Hand ausgestreckt hielt, die Handfläche nach oben gedreht, und zum schwarzen Himmel emporsah. »Ich glaube, es fängt an zu regnen«, sagte er. In dem Moment spürte ich ebenfalls die ersten Tropfen. »Na toll«, murrte ich. »Die ganze Welt gegen uns, und jetzt auch noch der Himmel.« Armand gab einen unbestimmten Laut von sich und meinte: »Komm, gehen wir weiter. Irgendwo muss die Zivilisation schließlich wieder anfangen.« Tatsächlich erreichten wir ein paar Minuten später einen schmalen, asphaltierten Weg. Mittlerweile war ich der Überzeugung, dass die Hubschrauber mit uns überhaupt nichts zu tun gehabt hatten; jedenfalls waren sie nicht zurückgekehrt, um zum Beispiel den nächsten Geländestreifen abzusuchen, wie man es bei einer Suche ja wohl getan hätte. Auch von Hunden war längst nichts mehr zu hören. Dafür regnete es immer stärker. Bald war meine Jacke durchfeuchtet, klebte mir die Hose klamm und kalt an den
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