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Die seltsame Welt des Mr. Jones

Die seltsame Welt des Mr. Jones

Titel: Die seltsame Welt des Mr. Jones Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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ohne Verstand herum.«
    »Was essen Sie?«
     »Gar nichts. Sie machen einfach weiter, bis sie sterben. Es gibt keinen Ernähungsapparat, keinen Verdauungsprozeß, keine Ausscheidung, keine Fortpflanzungsorgane. Sie sind unvollständig.«
    »Seltsam.«
     »Anscheinend sind wir in einen ganzen Schwarm von ihnen geraten. Gewiß, sie haben angefangen herabzufallen. Sie werden hier und dort hinstürzen, auseinanderplatzen, auf Autos prallen, auf Feldern plattgedrückt werden, Flüsse und Seen verpesten. Sie werden stören. Sie werden stinken und sich aufbäumen. Wahrscheinlich werden sie aber ruhig daliegen und sterben. In der Sonne verbacken – die Hitze hat diesen einen umgebracht. Er war verbraten. Inzwischen werden die Menschen Stoff zum Nachdenken haben.«
    »Vor allem dann, wenn Jones anfängt.«
     »Wenn nicht Jones, dann wäre es ein anderer. Aber Jones hat diese Begabung, diesen Vorteil. Er kann bestimmen.«
    »Das Papier war seine Entlassungsverfügung, nicht wahr?«
     »Richtig«, sagte Pearson. »Er ist frei. Bis wir uns ein neues Gesetz ausdenken können, ist er ein freier Mann und kann tun, was er will.«

    VI

     Jones stand in der winzigen, weißschimmernden, hygienischen Polizeizelle und spülte den Mund mit Dr. Sherrifs SpezialHalstinktur. Die Tinktur schmeckte bitter und unangenehm. Er rollte sie von Wange zu Wange, behielt sie einen Augenblick in der Kehle und spuckte sie dann in das Waschbecken aus Porzellan.
     Die beiden uniformierten Polizeibeamten, einer an jedem Ende der Zelle, schauten wortlos zu. Jones beachtete sie nicht. Er starrte in den Spiegel über dem Becken und kämmte sich sorgfältig. Dann fuhr er mit dem Daumen über die Zähne. Er wollte in Form sein; in einer Stunde würde er mit wichtigen Dingen befaßt sein.
    Einen Augenblick lang versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was unmittelbar bevorstand. Die Entlassungsverfügung war fällig, so meinte er jedenfalls. Es war so lange her; ein ganzes Jahr war vergangen, und die Einzelzeiten verschwammen bereits. Undeutlich entsann er sich, daß ein Polizist hereintrat, der etwas in der Hand trug, ein Papier. Das war sie, das war die Entlassungsverfügung. Und danach kam eine Rede.
     Die Rede kannte er noch ganz genau, er hatte sie nicht vergessen. Ärger machte sich breit, als er darüber nachdachte. Dieselben Worte noch einmal sprechen, die alten Gesten wiederholen. Die bekannten mechanischen Handlungen… abgestandene Ereignisse, trocken und verstaubt…
    Inzwischen rollte die lebendige Welle weiter.
     Er war ein Mann mit den Augen in der Gegenwart und dem Körper in der Vergangenheit. Selbst jetzt, während er seine schmutzige Kleidung betrachtete, die Haare glättete, sein Zahnfleisch massierte, selbst hier in der aseptischen Polizeizelle hafteten seine Sinne an einer anderen Szene, an einer Welt, die noch vor Lebenskraft tanzte, die nicht schal geworden war. Im nächsten Jahr war viel geschehen. Während er verärgert an seinem bärtigen Kinn kratzte, an einem alten Schorf zupfte, gab die Welle neue Augenblicke und erregendes Geschehen frei.
     Die Welle der Zukunft schwemmte unglaubliche Muscheln an, die er betrachten konnte.
     Ungeduldig ging er zur Zellentür und sah hinaus. Das war es, was er haßte; das war das Widerliche. Der Sumpf der Zeit. Die Zeit ließ sich nicht beschleunigen. Mit müden, elefantenhaften Schritten schleppte sie sich dahin. Nichts konnte sie antreiben, sie war monströs und taub. Schon hatte er das nächste Jahr verbraucht. Er hatte es satt. Aber trotzdem würde es ablaufen. Ob es ihm gefiel oder nicht – und es gefiel ihm nicht –, er würde jeden Millimeter durchmessen müssen, körperlich erneut zu erfahren haben, was er schon seit langem im Geist wußte.
    So war es sein ganzes Leben gewesen. Die Verschiebung hatte es schon immer gegeben. Bis zum Alter von neun Jahren hatte er geglaubt, jeder Mensch müsse die Verdoppelung aller wach erlebten Augenblicke erdulden. Mit neun Jahren hatte er
    achtzehn Jahre gelebt. Er war erschöpft, angewidert und fatalistisch. Mit neuneinhalb Jahren hatte er entdeckt, daß er das einzige so belastete Wesen war. Von da an wurde aus seiner Resignation schnell tobende Ungeduld.
     Er war am 11. August 1977 in Colorado geboren. Der Krieg war noch im Gange, aber den amerikanischen Mittelwesten hatte er nicht berührt, so auch nicht die Stadt Greeley in Colorado. Kein Krieg konnte in jede Stadt greifen, jeden Menschen erfassen. Die Farm seiner Familie wurde fast

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