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Die seltsame Welt des Mr. Jones

Die seltsame Welt des Mr. Jones

Titel: Die seltsame Welt des Mr. Jones Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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das?«
     Draußen war nichts zu sehen. Jedenfalls nicht für sie; sie konnte nicht sehen, was der Junge sah.
     Er lief hinaus und betrachtete die am Horizont dahinziehende Kolonne. Weiter, immer weiter… wohin fuhren sie? Was war mit ihnen geschehen? Er lief bis zum Rand der Farm, so weit, wie es erlaubt war. Draht versperrte ihm den Weg, ein rostiges Gewirr von Stacheln. Beinahe konnte er einzelne Gesichter erkennen, beinahe den Schmerz in ihnen wahrnehmen. Wenn er nur näher herankönnte…
    Das war der Augenblick seines Erwachens. Denn er allein sah die Prozession des Unheils. Für alle anderen, auch die Verdammten selbst, gab es sie nicht. Er erkannte ein Gesicht: die alte Mrs. Lizzner aus Denver. Sie war da. Gesichter, die er kannte, die er in der Kirche gesehen hatte. Diese Menschen waren keine Fremden; sie waren Nachbarn, Leute von hier. Sie waren die Welt, seine Welt, die eingeschrumpfte, verdorrte Welt des Mittelwestens.
     Am nächsten Tag erschien Mrs. Lizzner mit ihrem staubigen Oldsmobile, um einen Nachmittag mit seiner Mutter zu verbringen.
     »Haben Sie es gesehen?« schrie er sie an. »Haben Sie es gesehen?«
     Sie hatte es nicht gesehen. Aber sie hatte dazugehört. Es gab also keinen Zweifel. Es hatte keinen Sinn, die Sache weiterz uverfolgen.
     Das wahre Verstehen kam in seinem zehnten Lebensjahr. Die Bombe war gefallen, Mrs. Lizzner war tot, und das Land war wirklich verwüstet. Eine derart einmalige Katastrophe, nie wiederholt, nie zuvor und nie mehr nachher gesehen, war unverwechselbar. Was er allein gesehen hatte, verschlang nun alle. Die Beziehung der Welle zu dem, was seine Mitmenschen erlebten, war eindeutig. Natürlich sagte er niemandem etwas. Mit dem Begreifen hörten seine Versuche auf, sich mitzuteilen.
     Er konnte nicht zurück. Seit er wußte, daß er anders war, konnte er nicht zur ziellosen Aktivität der Farm zurückkehren. Die Monotonie der Landarbeit war für ihn verdoppelt; die Last erwies sich als zu groß. Mit Fünfzehn, hager, knochig und versponnen, hatte er sein Geld zusammengekratzt – vielleicht zweihundert Dollar, alles Westblock-Inflationswährung – und war davongegangen.
    Im Gebiet von Denver erholte man sich mühsam von der Katastrophe. Das war zu erwarten gewesen, wie alles andere auch. Ein Jahr vorher, mit Vierzehn, hatte er seine Reise vorausgesehen. Wieder, aber diesmal aus erster Hand, besichtigte er den gähnenden Krater, den die Bombe hinterlassen hatte, dachte an die Tausende von Menschen, die in einem Augenblick in Asche verwandelt worden waren. Er bestieg einen Bus und verließ Colorado. Drei Tage später war er in den Ruinen von Pittsburgh.
     Hier gingen einfache industrielle Tätigkeiten weiter. Unter der Erde loderten die Schmelzöfen noch immer. Aber Jones zeigte kein Interesse. Zu Fuß setzte er seine Reise fort, vorbei an rauchendem Metall, wo einst die größte Ansammlung von Fabriken im Universum gewesen war. Es herrschte Kriegsrecht; wie vorausgesehen, begegneten ihm Patrouillen, und er wurde, wie alle, mitgenommen.
     Im Alter von fünfzehn Jahren und drei Monaten wurde er von zuständigen Behörden untersucht, verhört und zur Arbeit eingeteilt. Der Arbeitstrupp, zu dem er kam, war keine Überraschung für ihn, aber die Qual blieb. Grimmig und zornig schleppte er monatelang mit den anderen Steine, mit bloßen Händen, um auf diese primitive Weise die Ruinen freizulegen. Am Ende des Jahres brachte man Maschinen heran, und die Handarbeit hörte auf. Er war älter, kräftiger und beträchtlich klüger. Ungefähr um die Zeit, als man ihm ein Gewehr gab und zur zerbröckelnden Front schaffte, ging der Krieg zu Ende.
     Das hatte er vorausgesehen. Er verließ seine Einheit, tauschte sein Gewehr gegen eine ordentliche Mahlzeit und vernichtete seine Uniform. Einen Tag später trampte er, wie er begonnen hatte, auf der Landstraße dahin: zu Fuß, in Bluejeans, mit zerfetztem Hemd, einen Sack auf dem Rücken; so wanderte er durch den Schutt, den der Krieg hinterlassen hatte, durch die chaotische Trostlosigkeit der neuen Welt.
     Beinahe siebzehn Jahre lang war seine Doppelexistenz ohne Zweck und Ziel gewesen. Nichts als eine Last, ein großes, totes Gewicht. Selbst eine Vorstellung, wie er sie gebrauchen könnte, fehlte. Er sah sie als sein Kreuz an, nicht mehr. Das Leben war schmerzvoll; seines doppelt quälend. Was nützte es zu wissen, daß das Elend des nächsten Jahres unausweichlich war? Hätte sich Mrs. Lizzner als Tote in der Kolonne

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