Die Shakespeare-Morde
Sitztasche steckte.
»Sie haben in den
letzten zehn Minuten dreimal nachgesehen«, bemerkte Ben. »Ich
bin mir ziemlich sicher, dass er noch da ist.«
»Vielleicht sind ihm
Beine gewachsen, und er brennt mit der Notfallbroschüre durch«,
verteidigte ich mich. »Man kann nie wissen.«
Kurze Zeit später
zuckelten die Wagen mit dem Abendessen durch die Gänge und zingelten
uns ein, und fürs Erste konzentrierten wir uns auf den Kampf mit den
Plastikverpackungen.
»Erklären Sie mir
mal«, sagte Ben, während er in seiner matschigen Lasagne
herumstocherte, »wie man überhaupt auf die Idee gekommen ist,
dass Shakespeare seine Stücke nicht selbst geschrieben hat. Ich
meine, wenn man nicht paranoid ist«, setzte er nach.
Miß Bacon hatte Recht -
Recht und nochmals Recht.
Ich trank einen Schluck Wein.
»Ich sage es nicht gern, aber es spricht manches dafür. Die Stücke
müssen von jemandem geschrieben worden sein, dessen Profil nicht zu
dem Mann passt, den uns die Geschichte liefert. Die Stratfordianer sagen,
diese Inkongruenz sei eine optische Täuschung - der Lauf der Zeit hätte
die historischen Quellen verzerrt -, und sie versuchen das Szenario zu
rekonstruieren, das den Mann aus Stratford mit den Stücken in
Verbindung bringt. Die Anti-Stratfordianer behaupten, die Inkongruenz sei
echt - weil es sich um zwei verschiedene Männer
handelt, die den gleichen Namen benutzten: einen kleinen Schauspieler aus
Stratford, der seinen Namen hergab oder verkaufte, und einen scheuen
Schreiberling, der sich dahinter verbarg. Und so versuchen sie wiederum
ein Szenario zu rekonstruieren, das den Schauspieler und den
Schriftsteller auseinanderhält.
Beide Parteien erheben
Anspruch auf die Wahrheit. Sie nennen ihre Geschichten Biografie und
beschimpfen ihre Gegner als Dummköpfe, Verrückte und Lügner
- Sie haben Athenaide reden hören. Dabei werfen sie mit Begriffen wie
Orthodoxie und Ketzertum um sich, als ginge es um eine Frage der Religion.«
»Und Sie stehen wie ein
Gott über dem Geschehen und sehen den Kindern beim Zanken zu?«
»Wenn ich Gott wäre,
würde ich die Antwort kennen. Aber die Wahrheit ist, wir wissen
nicht, wer die Stücke geschrieben hat. Jedenfalls nicht so, wie wir
wissen, dass Wasser aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom
besteht oder dass alle Menschen sterben.« Dr. Sandersons Gesicht
tauchte vor mir auf, und ich musste schlucken. »Der Großteil
der Quellen zeigt auf den Schauspieler aus Stratford. Aber es gibt Lücken
in der Geschichte, die so groß sind, dass man sie nicht einfach
ignorieren kann. Ich glaube nicht, dass die Sachlage ausreicht, um in
einem Strafprozess dem Schauspieler die Stücke ›ohne vernünftigen
Zweifel‹ zuzusprechen.«
Ich griff unter das
Klapptischchen und wühlte in der Sitztasche.
»Unser einziger echter
Zeuge ist Ben Jonson, der den Schauspieler kannte und höchstwahrscheinlich
die First Folio lektorierte.« Ich zog die Faksimile-Ausgabe der
First Folio heraus und schlug die Seite mit dem eierköpfigen Porträt
auf.
»In der First Folio
Edition wird der Mann aus Stratford eindeutig identifiziert. Andererseits
ist alles, was Jonson über den Autor und sein Bild sagt, rätselhaft
und möglicherweise ironisch. Ist Jonson hier der ehrliche Ben Jonson?
Oder ist er Ben Jonson, der ironische Spötter? Sehen Sie sich die
Widmung an, die direkt neben dem seltsamen Porträt steht:
… drum Leser, such’:
Nicht hier im Antlitz -
such im Buch!«
»Ein kluger Rat bei
einem so hässlichen Bild.«
»Ja, aber man muss
nicht lange an den Worten drehen, um den Vers zum augenzwinkernden Zeugnis
zu machen, dass das Bild gar nicht den ›echten‹ Shakespeare
zeigt. Und noch etwas: Ben Jonsons gesammelte Werke waren 1616 mit Pauken
und Trompeten erschienen - an die dreißig prominente Dichter und
Literaten hatten Sonette mit sich überschlagenden Lobpreisungen
beigetragen. Aber als Shakespeares First Folio Edition herauskam, haben
sie alle höflich geschwiegen. Ben Jonson war der Einzige unter den
hehren Literaten, der sich zur Folio äußern wollte. Der Rest
der Beitragenden - es waren nur drei - waren, wenn überhaupt,
drittklassig.«
»Aber wenn Shakespeare
nicht Shakespeare ist, wer ist er dann?«
Hilflos hob ich die Hände.
»Da liegt der Hase im Pfeffer. Zuallererst, wer müsste überhaupt
ein solches Geheimnis um seine
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