Die Shakespeare-Morde
doch
von hier aus sah man, dass wir uns eigentlich im ersten Stock befanden,
als wäre das Gebäude an einen Hügel gebaut.
Unter uns, auf der linken
Seite des Hofs, befand sich eine alte Pforte. Zu Shakespeares Zeiten, erklärte
Mrs Quigley, hatte ein offenes Tor in den Hof geführt. Dort fuhren
die Kutschen herein, um die adligen Gäste - und gelegentlich eine
Schauspieltruppe - direkt vor dem offiziellen Eingang abzusetzen, der sich
damals im Innenhof befand. Ein reizender kleiner Portikus, wie Mrs Quigley
sagte, sogar mit Wasserspeiern, ungefähr unter der Stelle, an der wir
standen.
Durch diese Pforte war
Shakespeare eingetreten, dachte ich. Er hatte unter uns im Hof auf dem
Pflaster gestanden und zum Himmel hinaufgeblickt - ob es regnen würde?
Irgendwo in diesen Mauern hatte er gegessen und Bier oder Wein getrunken,
hatte mit einem hübschen braunäugigen Mädchen geschäkert,
ein Briefchen geschrieben, auf der Wiese eine Blume gepflückt, in
eine Pfütze gepinkelt, gewürfelt, geschlafen und vielleicht geträumt.
Er hatte während der Vorstellung das Publikum beobachtet, mit dem
gnadenlosen Auge des Regisseurs jede Bewegung, jeden verstohlenen,
verliebten Blick registriert, die Tränen und das Luftholen, und - als
Bestes von allem - das Gelächter. Der Nachhall seiner Gegenwart war
etwas, das weder Athenaide noch die Folgers, noch der Globe Trust mit
allem Geld der Welt nachahmen konnten. Er war hier gewesen.
»›Das
Shakespeare-Haus‹ haben sie das kleine Eingangsportal früher
genannt«, erklärte Mrs Quigley. »Die Familienlegende
will, dass die King’s Men es als Bühne benutzten. Heute kennt
man es nur noch als Holbein-Portal.«
»Es existiert noch?«
Sir Henrys Stimme klang gierig.
»O ja. Mit viel Glück
und Loyalität, kann man sagen. Während eines Umbaus im frühen
19. Jahrhundert war das Portal abgetragen worden. Die Steine wurden
sozusagen in alle Winde zerstreut. Doch es gab einen sturen alten
Steinmetz, der sein Leben lang hier gearbeitet hatte, und er tat alles,
damit sie nicht verloren gingen. Stein für Stein sammelte er im Park wieder
ein, und dann baute er das Portal als Pavillon wieder auf. Seither steht
es am Ende des kleinen Privatparks des Grafen. Nur die Inschrift ist
leider spurlos verschwunden.«
Weil sie uns nicht enttäuschen
wollte, führte sie uns zurück in die Eingangshalle, wo sie vor
dem lebensgroßen Gemälde eines Ritters stehen blieb. »Wenn
Sie sich für Shakespeare interessieren, interessiert Sie sicher auch
der vierte Graf Pembroke. Einer der beiden Unvergleichlichen Brüder,
denen Shakespeares Gesamtausgabe gewidmet ist.« Der Graf auf dem Gemälde
hatte helles schulterlanges Haar und blickte etwas höhnisch zu uns
herab. Sein gelbbraunes Satingewand war von dezentem Luxus, wobei er eine
gewisse Vorliebe für Spitze zu hegen schien. »Der Jüngere«,
erklärte Mrs Quigley. »Philip Herbert. Der erste Graf von
Montgomery, damals, als dieses Bild gemalt wurde. Er war mit einer Tochter
des Grafen von Oxford verheiratet.«
Vero nihil verius, dachte
ich. Nichts ist wahrer als die Wahrheit.
»Später, als sein
Bruder kinderlos starb, erbte er auch den Titel des Grafen von Pembroke,
was ihn zum vierten Graf von Pembroke und ersten Graf von Montgomery
machte. Seitdem sind die beiden Titel vereinigt.«
Während Mrs Quigley ins
Plaudern verfiel, sah ich mir die Statue genauer an. Weder der Graf noch
das Shakespeare-Haus spielten eine Rolle. Shakespeare weist zur Wahrheit,
so in etwa hatte es Ophelia ausgedrückt. Die Wahrheit musste also
direkt vor meiner Nase liegen.
Vier Worte der Inschrift
waren in Großbuchstaben gemeißelt: ›LEBEN‹,
›SCHATTENBILD‹, ›SCHAUSPIELER‹, ›BÜHNE‹.
War das von Bedeutung? Shakespeares Finger lag auf ›SCHATTENBILD‹
… War das besser als ›Tempel‹ LEBEN, SCHATTENBILD, SCHAUSPIELER,
BÜHNE.
Mit gerunzelter Stirn
betrachtete ich die marmornen Buchstaben. Dann trat ich näher heran.
Das L von ›LEBEN‹ schien Spuren von Gold zu enthalten.
»War die Statue früher bemalt?«, fragte ich.
Mrs Quigley kam
herbeigeflattert. »Nein, nicht die Statue«, sagte sie. »Zumindest
nicht die ganze. Das hätte der schöne Marmor aus Carrara nicht
verdient. Aber die Inschrift war bemalt. Vor ein paar Jahren hat es sich
ein Restaurator näher angesehen. Ich habe irgendwo eine
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