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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Veilchen
     waren an ihren Stängeln verwelkt; der alte Mann war tot. Zumindest
     hatte ich ihn für einen Mann gehalten, doch während ich ihn
     ansah, begann sich sein Gesicht zu verwandeln, zitternd und zuckend wie
     unter Wasser, und plötzlich erkannte ich, dass es Ros war.
    Mit einem grünen Blitzen
     sprangen ihre Augen auf. Als ich zurückwich, spürte ich, wie ein
     Schatten über meinen Rücken kroch, dann hörte ich das
     Zischeln einer Klinge, die aus der Scheide gezogen wurde.
    *
    Stocksteif saß ich im
     Bett. Ich hatte mir mit der Nadel der Brosche in den Finger gestochen; ein
     Tropfen Blut war auf Sir Henrys Quilt gefallen. Ich stand auf und zog
     vorsichtig die Vorhänge zurück. Draußen im Garten
     strahlten die Rosen mit fleischigen pinken und dunkelroten Blüten im
     gleißenden Sonnenschein. Ich hielt das Gesicht ins Licht und ließ
     mich von der Sonne durchfluten, bis sich der Traum und allmählich
     auch die Angst in der Morgenluft auflösten.
    Im Ankleidezimmer lagen neue
     Kleider für mich: eine schmale schwarze Hose, ein ausgeschnittenes
     Top, enger, als ich es gewohnt war, und ein Blazer von teurer Einfachheit.
     Ich war angenehm überrascht, wie gut alles saß. Auf dem Boden
     stand ein kleiner gepackter Koffer.          
    Obenauf lag ein Flugticket.
     Der Flug ging um neun. Eilig zog ich mich an und steckte die Brosche am
     Revers meines neuen Blazers fest. Dann ging ich nach unten, um nach Sir
     Henry zu suchen.
    »Auf der Flucht vor den
     Paparazzi habe ich mehr Tricks gelernt als beim Theater«, sagte er
     zufrieden, als ich ins Frühstückszimmer kam. Der Bentley, erklärte
     er mir, würde in wenigen Minuten mit dem Gärtner und seiner
     Enkelin nach Highgate aufbrechen. Sein Ablenkungsmanöver hielt ihn
     allerdings nicht davon ab, beim Frühstück besorgt an mir
     herumzuzupfen. »Bist du dir sicher, dass ich dich nicht begleiten
     soll?«, fragte er, während er ein Pfund Zucker in seinen Tee rührte.
    Ich schüttelte den Kopf.
     »Danke, aber mit einem weltberühmten Schauspieler an meiner
     Seite würde ich wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit erregen.«
    Ich war erleichtert, als ich
     endlich zu Barnes in den Range Rover stieg.
    »Pass auf dich auf,
     Kate.« Mehr sagte Sir Henry nicht. Dann schloss er die Tür,
     doch seine Augen waren voller Sorge.

 
    9
    Der Flug verlief wie in
     Trance. Sir Henry hatte mir ein Erste-Klasse-Ticket besorgt, sodass ich
     die Beine ausstrecken konnte, doch ich konnte weder schlafen noch
     nachdenken. Um ein Uhr mittags landete ich auf dem Bostoner Logan Airport,
     sprang in ein Taxi und ließ mich aufs Festland in den Stadtteil
     Cambridge bringen.
    Als das Taxi den Storrow
     Drive entlangbrauste, sah ich den Charles River zu meiner Rechten tiefblau
     unter dem wolkenlosen Himmel glitzern. Dann kamen am anderen Ufer die
     roten Backsteingebäude der Studentenwohnheime in Sicht mit ihren
     braunen, türkisen und engelsblauen Kuppeln. Die Straße
     beschrieb einen Bogen über den Fluss und brachte uns schließlich
     ins Universitätsviertel, das die frühsommerliche Sonne jetzt
     schon in einen Backofen verwandelte. Ich checkte in mein Hotel ein —
     das Harvard Inn - und beeilte mich mit den Formalitäten. Dann stellte
     ich den Koffer im Zimmer ab, warf mir die Tasche über die Schulter
     und eilte im Laufschritt über die Massachusetts Avenue und in den
     parkartigen Campus.
    Hier war es kühler - die
     Backsteinbauten standen in einem Meer grüner Rasenflächen im
     Schatten gepflegter hoher Bäume mit glatten Stämmen. Als ich um
     die Ecke bog, tauchte die Bibliothek vor mir auf. Erbaut im Andenken an
     einen jungen Harvard-Absolventen, der 1912 nach Europa gereist war, um
     seiner Liebe zu kostbaren Büchern zu frönen, und auf dem Rückweg
     beim Untergang der Titanic ums Leben kam, beherrschte die Harry Elkins
     Widener Memorial Library die östliche Hälfte des Campus von
     Harvard - ein massiger Würfel, so dominant wie die trauernde
     Matriarchin, die den Bau in Auftrag gegeben hatte.
    Ich lief die Freitreppe
     hinauf und betrat durch das zwei Stockwerke hohe Portal die kühle
     Marmorhalle. Am Schalter der Zugangsverwaltung erhielt ich als Ehemalige
     eine gelbe Besucherkarte für das Magazin. Ein Stockwerk tiefer zeigte
     ich dem gelangweilten Studenten, der die Aufsicht führte, meinen vorläufigen
     Ausweis vor und gelangte über ein hell erleuchtetes Treppenhaus ins
     Magazin.
    Ich blieb einen Moment
     stehen, um

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