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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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mir vorbei
     und ging voran. Ich tastete mich an der Wand entlang, doch ich musste mich
     beeilen, um mitzuhalten. Riesige Rohre liefen an den Wänden des
     Tunnels entlang, ein paar waren warm, andere bullerten, und manche waren
     tot. Schlurfend, um nicht zu stolpern, hasteten wir, so schnell wir
     konnten, durch die undurchdringliche Finsternis. Meine Augen versuchten so
     angestrengt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, dass ich das Gefühl
     hatte, sie würden aus den Höhlen treten.
    Ein Stück weiter machte
     der Tunnel einen Knick nach rechts. Kurz nach der Biegung blieb Ben
     stehen.
    »Was —«,
     begann ich, doch er unterbrach mich.
    »Schließen Sie
     die Augen und hören Sie.« In dem Moment, als ich mich auf mein
     Gehör konzentrierte, anstatt auf das, was ich nicht sah, entspannten
     sich meine Augen - doch was ich hörte, waren leise schlurfende
     Schritte hinter uns.
    Wortlos gingen wir schneller.
     Irgendwo begann es zu brummen, dann lief ein Zittern durch die Rohre, die
     Neonröhren im Tunnel flackerten kurz auf, und mit einem Schlag
     begriff ich, was passierte. Jemand hatte den Hauptschalter erreicht. Wenn
     der Strom wieder lief, bevor wir die Tür am anderen Ende des Tunnels
     erreichten, saßen wir in der Falle.
    »Los!«, rief ich,
     doch Ben brauchte keine Aufforderung. Die Lampen flackerten erneut auf,
     und jetzt konnte ich das Ende des Tunnels sehen, nur wenige Schritte von
     uns entfernt.
    »Halt!«, schrie
     eine dröhnende Stimme weit hinter uns.
    Noch drei Schritte, und Ben
     warf sich mit einem Sprung gegen die Tür. Sie flog auf, und ich
     rannte hindurch. Kaum war Ben hinter mir hergeschlüpft, warf er die Tür
     zu. Schmatzend fiel sie ins Schloss.
    Keuchend standen wir in einem
     tiefen Keller, der kaum mehr war als ein kalt ausgeleuchteter Lagerraum
     voller Regale. Eine Tür führte ins Treppenhaus. Zwei Stockwerke
     höher betraten wir das schwach beleuchtete Foyer im Erdgeschoss des
     Lamont-Gebäudes. Rechts befand sich eine Nische mit Kopierern. Links
     war der verlassene Ausleihschalter, daneben eine Glastür zu einer
     kleinen Terrasse. »Notausgang. ALARMGESICHERT«, warnte ein
     Schild über der Tür. Draußen schien bereits jede
     Alarmanlage auf dem ganzen Campus zu heulen.
    »Meinen Sie, eine
     Sirene mehr fällt auf?«, rief Ben.
    Ich schob mich an ihm vorbei
     hinaus in die Nacht. Wir standen auf einer kleinen mit Efeu bewachsenen
     Betonterrasse. Über uns stimmte eine weitere Glocke in den Chor der
     Sirenen ein, doch es war zu bezweifeln, dass irgendjemand in mehr als drei
     Metern Entfernung sie hörte. Als wir um die Ecke bogen, blieb ich wie
     angewurzelt stehen. 
    Vor uns hatte sich eine
     kleine Menschenmenge versammelt, doch keiner sah in unsere Richtung. Sie
     konnten uns bei dem Höllenlärm, der hier draußen
     herrschte, unmöglich hören, und außerdem starrte jeder
     Einzelne von ihnen wie hypnotisiert zur Widener-Bibliothek hinüber,
     wo eine Rauchsäule und lodernde Flammen aus dem Innenhof stiegen.
    Plötzlich wurde mir
     klar, was sich dort im glutroten Herzen des Feuers befand: Harry Wideners
     Arbeitszimmer. »Die Bücher«, stöhnte ich. All die
     wunderschönen, unersetzbaren Bücher. Das war das Schneegestöber,
     das im Innenhof durch die Luft wirbelte, als ich aus Ros’
     geborstenen Fenstern gesehen hatte: Seiten aus den kostbaren Büchern
     der Widener-Sammlung.
    »Wenigstens ist niemand
     zu Schaden gekommen«, sagte Ben.
    Doch ich konnte nur an die Bücher
     denken, die dort verbrannten. »Mein Gott«, sagte ich erschüttert.
     »Die First Folio Edition.« Am Nachmittag hatte ich noch
     hineingesehen. In der Rotunde vor dem Arbeitszimmer.
    Auch im Globe war eine First
     Folio in Flammen aufgegangen. Mit einem Mal begriff ich, dass der
     verdammte Mistkerl mordete und ganze Gebäude niederbrannte, um die
     Folios zu zerstören. Und die Folio - zumindest ein bestimmtes
     Exemplar - war das jakobäische Magnum opus, das Ros meinte. Der Schlüssel
     zu ihrer Entdeckung. Der Mörder wollte nicht nur Ros und mich davon
     abhalten, den Schatz zu finden - egal was es war. Er eliminierte alle
     Wege, die zum Ziel führen könnten.
    Ich wollte mich durch die
     Menge nach vorn drängeln, doch Ben hielt mich zurück. »Es
     ist zu spät«, sagte er mit rauer Stimme. »Die Bücher
     sind hin.« Er zog mich fort, am Haupteingang der Lamont-Bibliothek
     vorbei, und dann verließen wir den Campus durch das gleiche Tor,
     durch das ich gekommen

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