Die Shakespeare-Morde
Richtung Tür.
»Komm mit.«
»Ich bin mitten in der
Probe.«
»Vertrau mir«,
sagte sie und beugte sich vor. »Es ist etwas, das du dir nicht
entgehen lassen willst.«
Wut wallte in mir auf, und
als ich aufstand, riss ich ein paar Bücher vom Tisch.
Mit einem Mal war die kokette
Geheimnistuerei aus ihren Augen verschwunden. »Ich brauche Hilfe,
Kate.«
»Frag jemand anderen.«
»Deine Hilfe.«
Meine Hilfe? Ich runzelte die
Stirn. Ros hatte jede Menge Freunde am Theater; sie musste nicht zu mir
kommen, wenn sie Fragen zu Shakespeare auf der Bühne hatte. Und das
einzige andere Thema, das sie interessieren könnte - wo ich mich
besser auskannte als sie -, lag zwischen uns wie ein Minenfeld: meine
Dissertation. Ich hatte über den okkulten Shakespeare geschrieben.
Die alte Bedeutung des Wortes ›okkult‹, beeilte ich mich
immer dazuzusagen. Nicht das Dunkle, Magische, sondern das, was im
Verborgenen stattfand. Insbesondere hatte ich mir die vielen seltsamen
Versuche, speziell des 19. Jahrhunderts, angesehen, kodiertes Geheimwissen
aus Shakespeares Werken herauszulesen. Ros fand das Thema ebenso
schillernd und faszinierend wie ich - zumindest hatte sie das behauptet.
Allerdings hatte ich später um drei
Ecken erfahren, dass sie kein gutes Haar an meiner Arbeit ließ und
sogar meine Wissenschaftlichkeit in Zweifel zog. Und jetzt wollte sie
meine Hilfe?
»Warum?«, fragte
ich. »Was hast du entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht hier.« Dann sprach sie leise, drängend: »Wann
bist du fertig?«
»Gegen acht.«
Sie beugte sich weiter vor.
»Dann treffen wir uns um neun, oben auf dem Parliament Hill.«
Um neun brach die Dämmerung
herein, und Parliament Hill war einer der einsamsten Orte in London. Nicht
die sicherste Zeit, um draußen in Hampstead Heath herumzuspazieren.
Dafür hatte man von dort oben einen fantastischen Blick auf den
Sonnenuntergang. Als ich zögerte, meinte ich, in Ros’ Augen so
etwas wie Angst zu sehen. »Bitte.«
Dann streckte sie die Hand
aus, und einen Moment lang dachte ich, sie wollte die Schachtel zurücknehmen,
doch stattdessen strich sie mir über das Haar. »Immer noch das
gleiche rote Haar, die gleichen schwarzen Boleyn-Augen«, murmelte
sie. »Weißt du, wie königlich du aussiehst, wenn du wütend
bist?«
Damit hatte sie mich früher
immer aufgezogen - dass ich in bestimmten Launen wie die Königin von
England aussah. Nicht Elisabeth II., sondern Elisabeth I., Shakespeares Königin.
Es war nicht nur wegen meines rotbraunen Haars und der dunklen Augen,
sondern auch wegen der Form meiner Nase und meiner hellen Haut, die in der
Sonne sommersprossig wurde. Ein- oder zweimal hatte ich die Ähnlichkeit
im Spiegel selbst gesehen, aber der Vergleich, und was er implizierte,
hatte mir nie gefallen. Meine Eltern starben, als ich fünfzehn war,
und später hatte ich bei einer Großtante gelebt. Ich hatte viel
Zeit meines Lebens in der Gesellschaft autokratischer älterer Damen
verbracht, und ich hatte mir geschworen, dass ich nie so werden würde
wie sie. Und so wollte ich so wenig wie möglich gemein haben mit
jener unbarmherzigen Tudor-Königin, bis auf ihre Intelligenz
vielleicht, und die Liebe zu Shakespeare.
»Na schön«,
hörte ich mich sagen, »treffen wir uns um neun auf dem
Parliament Hill.«
Ros ließ die Hand
sinken. Vielleicht war sie überrascht, dass ich so leicht aufgab. Ich
konnte es selbst kaum glauben. Doch meine Wut war verraucht.
Im Theater knisterten die
Lautsprecher. »Ladys und Gentlemen«, kollerte die Stimme
meines Inspizienten, »in fünf Minuten auf die Plätze.«
Schauspieler strömten
auf den sonnendurchfluteten Hof. Ros lächelte, dann stand sie auf.
»Dein Auftritt und mein Abtritt«, sagte sie spöttisch.
Mit einem Anflug von Nostalgie erinnerte ich mich an den alten Witz und
Geist, der früher zwischen uns geherrscht hatte. »Pass gut
darauf auf, Katie«, sagte sie mit einem Blick auf die Schachtel.
Dann verließ sie mich.
Und so kam es, dass ich am
Ende eines langen Tages auf dem Parliament Hill auf einer Parkbank saß
und das tat, was ich nie wieder zu tun geschworen hatte: Ich wartete auf
Ros.
Ich streckte meine Glieder
und dachte an die Welt, die unter mir lag. Trotz der Türme von Canary
Wharf, die im Osten wie Krallen in den Himmel ragten, und des Hochhauses
in Midtown sah London von hier oben
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