Die Shakespeare-Morde
Reitern oder bösen Feen - von echten Geistern, die über die
Schlachtfelder unserer Erinnerung wandeln und ewig flüstern: Vergiss
mich nicht. Das war die Erkenntnis, die mir kam, als ich eines Abends bei
Sonnenuntergang allein auf einem Hügel über London saß. Zu
meinen Füßen erstreckte sich Hampstead Heath bis hinunter an
die silbergrauen Gestade der großen Stadt. Auf meinem Schoß
lag eine kleine, in Goldpapier gewickelte Schachtel. Die Schleife war noch
unversehrt.
Behutsam hielt ich die
Schachtel hoch.
»Was ist das?«,
hatte ich am Nachmittag gefragt, und die Schärfe meiner Stimme hatte
durch die Schatten der unteren Galerie des Globe Theatre geschnitten, wo
ich die Regie bei ›Hamlet‹ führte. »Eine
Wiedergutmachung? Oder Schweigegeld?«
Vor mir saß Rosalind
Howard, Harvards exzentrische Shakespeare-Professorin - eine Mischung aus
Amazone, erdiger Mutter und Zigeunerbaronin. Eindringlich beugte sie sich
zu mir vor. »Ein Abenteuer. Und, wie es aussieht, ein Geheimnis.«
Ich schob den Finger unter
die Schleife, doch Ros griff nach meiner Hand und hielt mich auf. Ihre grünen
Augen suchten meinen Blick. Ros war um die fünfzig, hatte kurzes
dunkles Haar und trug große, funkelnde Ohrringe, die von ihren Ohrläppchen
baumelten. Sie trug einen breitkrempigen weißen Hut mit Pfingstrosen
aus üppiger dunkelroter Seide - ein auffälliges Ding, das an das
Hollywood der alten Zeit erinnerte. »Wenn
du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den sie dir weist.«
Einst war Ros meine Mentorin
gewesen, mein leuchtendes Vorbild und beinahe so etwas wie eine zweite
Mutter. Und während sie die Matriarchin spielte, war ich stets die
pflichtbewusste Schülerin - bis ich mich vor drei Jahren entschloss,
meine akademische Laufbahn aufzugeben und ans Theater zu gehen. Es hatte
schon vorher zwischen uns zu kriseln begonnen, doch mein Weggang aus
Harvard führte zum endgültigen Bruch. Ros machte keinen Hehl
daraus, dass sie meine Flucht aus dem Elfenbeinturm als Verrat
betrachtete. Für mich war es eine Flucht nach vorn, auch wenn Ros
mich hinter meinem Rücken als Deserteurin bezeichnete, wie ich später
erfuhr. Doch das blieben Gerüchte. Seitdem hatte ich kein Wort des
Bedauerns oder der Aussöhnung von ihr gehört, bis sie plötzlich
an diesem Nachmittag ohne Vorwarnung im Globe auftauchte und mich um ein
Gespräch bat. Widerwillig unterbrach ich die Proben für eine
Viertelstunde. Eine Viertelstunde mehr, dachte ich, als sie verdiente.
»Du liest zu viele Märchen«,
sagte ich laut und schob die Schachtel zurück zur ihr. »Falls
der Weg, den sie weist, nicht direkt zurück zur Probe führt,
kann ich sie nicht annehmen.«
»Die kecke Kate«,
sagte Ros mit einem wehmütigen Lächeln. »Du kannst nicht
oder du willst nicht?«
Ich schwieg.
Ros seufzte. »Ob du sie
aufmachst oder nicht, ich will, dass du sie hast.«
»Nein.«
Ros neigte den Kopf und
musterte mich. »Ich habe etwas entdeckt, Liebes. Ich habe etwas Großes
entdeckt.«
»Genau wie ich.«
Sie ließ den Blick
durch das Theater schweifen - über die rohen Fachwerkgalerien, drei
Stockwerke hoch, und die Bühne, die am anderen Ende in den Innenhof
ragte, prunkvoll herausgeputzt mit künstlichem Marmor und falschem
Gold. »Ein echtes Husarenstück, am Globe den ›Hamlet‹
zu inszenieren. Umso mehr für jemanden wie dich - so jung, aus den
Staaten und vor allem eine Frau. Wo die britische Theaterwelt der
snobistischste Haufen auf dem Erdball ist.
Glaub mir, es gibt niemanden,
dem ich es mehr gönne, die Insel-Elite aufzumischen, als dir.«
Ihr Blick glitt zu dem Geschenk, das zwischen uns auf dem Tisch lag, dann
sah sie mir in die Augen. »Aber das hier ist größer.«
Ich starrte sie ungläubig
an. Verlangte sie im Ernst von mir, dass ich mir den Staub des Theaters
von den Stiefeln streifte und ihr folgte, allein auf ein paar Andeutungen
hin und eine lächerliche, in Goldpapier gewickelte Schachtel?
»Was steckt dahinter?«,
fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist in mein Gedächtnis fest verschlossen, und Ihr solltet
selbst dazu den Schlüssel führen.«
Ophelia. Ich stöhnte
innerlich. Von Ros hätte ich wenigstens den Hamlet erwartet - die
Hauptfigur in der Bühnenmitte. »Kannst du ein Mal aufhören
in Rätseln zu sprechen, wenigstens für zwei Minuten?«
Sie nickte in
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