Die Shakespeare-Morde
friedlich aus, wie es sich um die St.
Pauls Cathedral schmiegte - die Kuppel lugte hervor wie ein leuchtendes Ei
aus einem riesigen Daunennest. In der letzten Stunde war ein stetes
Rinnsal von Spaziergängern auf dem Weg unter mir vorbeigekommen. Doch
keiner von ihnen hatte mich eines Blickes gewürdigt oder war mit Ros’
selbstbewussten Schritten durch das Gras heraufgekommen. Wo blieb sie?
(Und was erhoffte sie sich?
Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, käme auf die Idee,
dass ich die Regie des ›Hamlet‹ am Globe aufgeben würde.
Ich war noch keine dreißig, Amerikanerin und
Literaturwissenschaftlerin, was mich wahrscheinlich zum toxischen
Gegenteil dessen machte, was sich die Götter der britischen
Theaterwelt als idealen Kandidaten für die Regie erträumten. Das
Angebot, ›Hamlet‹ zu übernehmen - der edelste Stein in
der Krone des britischen Theaters -, war ein Geschenk des Schicksals
gewesen, das an ein Wunder grenzte. Ich hatte die Nachricht des
Intendanten des Globe immer noch auf meinem Anrufbeantworter gespeichert.
Jeden Morgen spielte ich mir seine manische, abgehackte Stimme vor, nur um
mich zu versichern, dass ich nicht alles
geträumt hatte. Ich war in einer Lage, wo es mir vollkommen egal sein
konnte, ob Ros’ Schachtel die Landkarte von Atlantis oder den Schlüssel
zur Bundeslade enthielt. Nicht einmal Ros, die Königin der
Egozentrik, konnte erwarten, dass ich meinen Titel »Master of Play«
gegen irgendein Geheimnis eintauschte, sei es groß oder klein, das
sie mir anvertrauen wollte.
In drei Wochen war Premiere.
Zehn Tage später stand mir der schlimmste Teil des Theaterlebens
bevor: Als Regisseurin würde ich die Zügel aus der Hand geben müssen,
mich vom Team und von den Schauspielern trennen und hinausschleichen - und
die Show den Schauspielern überlassen müssen. Falls ich bis
dahin kein Anschlussprojekt fand.
Die Schachtel auf meinem Schoß
glänzte im Abendlicht.
Ja, aber nicht jetzt, könnte
ich Ros antworten. Ich kümmere mich um dein teuflisches Geschenk,
sobald ich mit ›Hamlet‹ fertig bin. Falls sie überhaupt
heute Abend hier erschien, um sich meine Antwort anzuhören.
Während die Dunkelheit
in die Stadt kroch wie eine dunkle Flut, flackerten am Fuß des Hügels
die Laternen auf. Am Nachmittag war es heiß gewesen, doch jetzt war
es kühl, und ich war froh, dass ich meine Jacke dabeihatte. Als ich
sie überstreifte, hörte ich plötzlich ein Knacken hinter
mir in den Büschen. Im selben Moment spürte ich Blicke im Rücken.
Erschrocken stand ich auf und drehte mich um. Die Dunkelheit hatte bereits
die Bäume verschluckt, die die Kuppe des Hügels säumten.
Nichts regte sich bis auf die Wipfel, die im Wind zitterten. Ich trat
einen Schritt vor. »Ros?«
Niemand antwortete.
Ich drehte mich um und suchte
die Landschaft unter mir ab. Es war niemand zu sehen, doch allmählich
fiel mir etwas auf, das ich vorher nicht gesehen hatte. Weit unter mir,
auf der anderen Seite von St. Pauls, stieg eine blasse Rauchsäule träge
zum Himmel. Mir stockte der Atem. Am Südufer der Themse, jenseits von
St. Paul’s, befand sich das wiedererbaute Globe Theatre mit seinen
weiß verputzten Wänden, dem Eichenfachwerk und dem stoppeligen
Dach aus trockenem Stroh. Wegen der Feuergefährlichkeit war das Globe
das erste mit Stroh gedeckte Gebäude in London seit dem großen
Brand von 1666, der vor fast dreieinhalb
Jahrhunderten die halbe Stadt in Schutt und schwelende Asche gelegt hatte.
Es musste eine optische Täuschung
sein. Vielleicht stieg der Rauch an einer Stelle zwanzig Kilometer südlich
des Globe auf, oder einen Kilometer weiter östlich.
Die Rauchsäule wurde
breiter und färbte sich grau, dann schwarz. Dann frischte der Wind
auf und riss die Schwaden auseinander. In ihrem Herzen blitzte ein
unheilverkündendes rotes Flackern auf. Hastig schob ich Ros’
Geschenk in die Jackentasche und lief hügelabwärts. Kaum hatte
ich den Weg erreicht, begann ich zu rennen.
2
Auf dem Weg zur Tube rief ich
jeden denkbaren Bekannten an, der irgendetwas wissen könnte. Doch ich
hatte kein Glück. Immer wurde ich direkt mit der Mailbox verbunden.
Dann lief ich die Treppe hinunter, hinein in Londons Unterwelt, wo Handys
nutzlos waren.
In der Eile, pünktlich
zu meiner Verabredung mit Ros zu kommen, hatte ich meine abendliche
Routine
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