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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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eine verlorene Welt für mich, die viel mehr umfasste als
     die Räume, die es bezeichnete - ein paar versteckte Zimmer im
     obersten Stockwerk der Widener-Bibliothek. Für uns Doktoranden war
     die Child Library so etwas wie eine Heimat gewesen, ein Ort mit tiefen,
     abgewetzten Sesseln, großen Tischen und warmem Licht, das auf alte Bücher
     fiel. Die kleine Bibliothek beherbergte eine außergewöhnliche
     Sammlung, nicht nur an Literatur, sondern an allem möglichen Treibgut
     literarischer Lebensläufe - Memoiren, Biografien, Historien und
     Briefe. Bände über Bände mit Briefen.
    »Dort gibt es
     massenhaft Briefe«, sagte ich seufzend.
    »Von Shakespeare?«,
     fragte Ben.
    »Wenn Sie einen finden,
     lassen Sie es mich wissen.«
    »Hat die Bibliothek
     keine?«
    »Niemand hat welche«,
     antwortete ich kurz. »Weil es keine gibt. Der berühmteste
     Dramatiker seiner Sprache - wahrscheinlich aller Sprachen -, und wir haben
     nichts. Keine Zeile an seine Frau, keine Beschwerde an seinen Buchhändler.
     Nicht einmal ein unterwürfiger Dankesbrief an die Königin.
     Alles, was wir haben, ist ein einziger Brief an ihn, eine Bitte um ein
     unbedeutendes Darlehen, die nie abgeschickt wurde. Wenn man nach der
     Beweislage geht, könnte man denken, er hätte überhaupt
     keine Briefe geschrieben oder erhalten. Man könnte fast annehmen,
     dass er gar nicht schreiben konnte.« Ich legte Ros’ Zettel zurück
     in das offene Buch und stand auf. »Natürlich muss er Briefe
     geschrieben haben. Nur haben sie anscheinend nicht überlebt. Ein
     klassischer Fall von Irreführung durch lückenhafte Beweislage.«
    Ich rieb meinen Nacken und
     dachte dabei unwillkürlich, dass ich Ros am liebsten den Hals
     umgedreht hätte. Von welcher Korrespondenz sprach sie? Konnte sie
     nicht ein einziges Mal sagen, was sie meinte?
    Ben untersuchte das Papier.
     »Erklären Sie mir genau, wo Sie es gefunden haben.«
    Rasch und leise erzählte
     ich ihm, was ich wusste, angefangen bei Ros’ Auftritt im Theater in
     der Rolle von Hamlets Geist über die kodierte Nachricht aus der
     Schachtel bis hin zum Zettelkatalog in ihrem Büro.
    »Der Katalog?«,
     fragte er stirnrunzelnd. »Sie haben das hier im Katalog gefunden?«
    Ich nickte. 
    »Die Gebäude in
     Harvard sind nach historischen Personen benannt, richtig?«
    Ich nickte wieder.
    »Und nach wem ist die
     Child Library benannt, Frau Professor?«
    »Nennen Sie mich nicht
     Frau Professor.« Doch während ich es sagte, verstand ich,
     worauf er hinauswollte. Ros meinte gar nicht den Ort. ›Child. Korr.‹
     war die Signatur für einen Eintrag im Katalog. Die bibliographische
     Angabe für ›Child. Korrespondenz‹. Mr Childs
     Korrespondenz.
    »Francis Child war hier
     Professor«, sagte ich langsam. »Ein richtiger, meine ich. Er
     hatte Ros’ Lehrstuhl inne, allerdings ein paar Generationen vor ihr.
     Er lehrte englische Literatur und war selbst für Harvard so etwas wie
     eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Wobei ich keine Ahnung habe, was Ros
     - oder ich - in seinen Papieren zu suchen hätten. Childs Fachgebiet
     waren Volkslieder und Balladen, nicht Shakespeare.« Ich
     zeigte auf Bens Laptop. »Kommen wir hier ins Internet?«
    Er nickte und schob mir den
     Computer herüber. Ich rief HOLLIS auf, Harvards Online-Katalog, dann
     tippte ich Childs Namen und das Stichwort ›Korrespondenz‹
     ein.
    »›Francis James
     Child‹«, las Ben über meine Schulter. »Korrespondenz,
     1855-1896.‹ Mist.« Er seufzte. »Wenn man drei Stunden
     zu spät kommt, macht es keinen Spaß, recht zu haben.«
    Nachdenklich schüttelte
     ich den Kopf. »Wir kommen nicht zu spät.«
    »Ist Ihnen der laute
     Knall vorhin nicht aufgefallen? Das war die Widener-Bibliothek, die
     explodiert ist.«
    »Sehen Sie.« Ich
     zeigte auf den Bildschirm. »Die Standortnummer ist MS Am 1922.«
    »Heureka«, sagte
     Ben trocken. »Das erklärt alles.«
    »›MS‹
     steht für ›Manuskript‹«, fuhr ich fort, während
     ich die Seite schloss. »Was bedeutet, dass die Briefe nicht in der
     Widener-Bibliothek sind. Sondern in der Houghton Library. Harvards
     Standort für seltene Bücher und Manuskripte.«
    »Und wo ist das?«
    »Der niedrige
     Backsteinbau zwischen der Widener und der Lamont.«
    »Mit anderen Worten,
     genau daneben.« Er schüttelte den Kopf. »Glauben Sie im
     Ernst, dass sie die Bibliothek aufmachen, wenn die Widener-Bibliothek
     direkt daneben in Flammen steht?«          
    »Wir

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