Die Shakespeare-Morde
eine verlorene Welt für mich, die viel mehr umfasste als
die Räume, die es bezeichnete - ein paar versteckte Zimmer im
obersten Stockwerk der Widener-Bibliothek. Für uns Doktoranden war
die Child Library so etwas wie eine Heimat gewesen, ein Ort mit tiefen,
abgewetzten Sesseln, großen Tischen und warmem Licht, das auf alte Bücher
fiel. Die kleine Bibliothek beherbergte eine außergewöhnliche
Sammlung, nicht nur an Literatur, sondern an allem möglichen Treibgut
literarischer Lebensläufe - Memoiren, Biografien, Historien und
Briefe. Bände über Bände mit Briefen.
»Dort gibt es
massenhaft Briefe«, sagte ich seufzend.
»Von Shakespeare?«,
fragte Ben.
»Wenn Sie einen finden,
lassen Sie es mich wissen.«
»Hat die Bibliothek
keine?«
»Niemand hat welche«,
antwortete ich kurz. »Weil es keine gibt. Der berühmteste
Dramatiker seiner Sprache - wahrscheinlich aller Sprachen -, und wir haben
nichts. Keine Zeile an seine Frau, keine Beschwerde an seinen Buchhändler.
Nicht einmal ein unterwürfiger Dankesbrief an die Königin.
Alles, was wir haben, ist ein einziger Brief an ihn, eine Bitte um ein
unbedeutendes Darlehen, die nie abgeschickt wurde. Wenn man nach der
Beweislage geht, könnte man denken, er hätte überhaupt
keine Briefe geschrieben oder erhalten. Man könnte fast annehmen,
dass er gar nicht schreiben konnte.« Ich legte Ros’ Zettel zurück
in das offene Buch und stand auf. »Natürlich muss er Briefe
geschrieben haben. Nur haben sie anscheinend nicht überlebt. Ein
klassischer Fall von Irreführung durch lückenhafte Beweislage.«
Ich rieb meinen Nacken und
dachte dabei unwillkürlich, dass ich Ros am liebsten den Hals
umgedreht hätte. Von welcher Korrespondenz sprach sie? Konnte sie
nicht ein einziges Mal sagen, was sie meinte?
Ben untersuchte das Papier.
»Erklären Sie mir genau, wo Sie es gefunden haben.«
Rasch und leise erzählte
ich ihm, was ich wusste, angefangen bei Ros’ Auftritt im Theater in
der Rolle von Hamlets Geist über die kodierte Nachricht aus der
Schachtel bis hin zum Zettelkatalog in ihrem Büro.
»Der Katalog?«,
fragte er stirnrunzelnd. »Sie haben das hier im Katalog gefunden?«
Ich nickte.
»Die Gebäude in
Harvard sind nach historischen Personen benannt, richtig?«
Ich nickte wieder.
»Und nach wem ist die
Child Library benannt, Frau Professor?«
»Nennen Sie mich nicht
Frau Professor.« Doch während ich es sagte, verstand ich,
worauf er hinauswollte. Ros meinte gar nicht den Ort. ›Child. Korr.‹
war die Signatur für einen Eintrag im Katalog. Die bibliographische
Angabe für ›Child. Korrespondenz‹. Mr Childs
Korrespondenz.
»Francis Child war hier
Professor«, sagte ich langsam. »Ein richtiger, meine ich. Er
hatte Ros’ Lehrstuhl inne, allerdings ein paar Generationen vor ihr.
Er lehrte englische Literatur und war selbst für Harvard so etwas wie
eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Wobei ich keine Ahnung habe, was Ros
- oder ich - in seinen Papieren zu suchen hätten. Childs Fachgebiet
waren Volkslieder und Balladen, nicht Shakespeare.« Ich
zeigte auf Bens Laptop. »Kommen wir hier ins Internet?«
Er nickte und schob mir den
Computer herüber. Ich rief HOLLIS auf, Harvards Online-Katalog, dann
tippte ich Childs Namen und das Stichwort ›Korrespondenz‹
ein.
»›Francis James
Child‹«, las Ben über meine Schulter. »Korrespondenz,
1855-1896.‹ Mist.« Er seufzte. »Wenn man drei Stunden
zu spät kommt, macht es keinen Spaß, recht zu haben.«
Nachdenklich schüttelte
ich den Kopf. »Wir kommen nicht zu spät.«
»Ist Ihnen der laute
Knall vorhin nicht aufgefallen? Das war die Widener-Bibliothek, die
explodiert ist.«
»Sehen Sie.« Ich
zeigte auf den Bildschirm. »Die Standortnummer ist MS Am 1922.«
»Heureka«, sagte
Ben trocken. »Das erklärt alles.«
»›MS‹
steht für ›Manuskript‹«, fuhr ich fort, während
ich die Seite schloss. »Was bedeutet, dass die Briefe nicht in der
Widener-Bibliothek sind. Sondern in der Houghton Library. Harvards
Standort für seltene Bücher und Manuskripte.«
»Und wo ist das?«
»Der niedrige
Backsteinbau zwischen der Widener und der Lamont.«
»Mit anderen Worten,
genau daneben.« Er schüttelte den Kopf. »Glauben Sie im
Ernst, dass sie die Bibliothek aufmachen, wenn die Widener-Bibliothek
direkt daneben in Flammen steht?«
»Wir
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