Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
Vom Netzwerk:
einer Beschreibung versehen aufführte.
     Am Ende der Seite war ein Abschnitt, den ich bisher übergangen hatte.
     Ich hörte, wie Ben neben mir nach Luft schnappte. Die Worte hatten
     sich bereits in mein Gedächtnis geprägt.
    »Verschollene Stücke«,
     lautete die Überschrift. Es folgten zwei Titel. Der erste war
     ›Gewonnene Liebesmühe Der zweite war ›Die Geschichte
     von Cardenio‹.
    Ben sah mich an. »Verschollen?«
    »Wir kennen die Titel,
     weil die Aufführungen im Kalender des Hofes verzeichnet sind. Wir
     wissen, dass die Stücke existiert haben. Aber seit Jahrhunderten hat
     niemand auch nur ein Zitat aus einem der beiden Stücke gesehen -
     nicht einen zusammenhängenden Satz.« Meine Stimme klang heiser.
     »Außer Jeremy Granville.«
    Bens Augen weiteten sich.
     »Wo?«
    Ich schüttelte den Kopf.
     Die erste Seite des Briefes fehlte. In dem Teil, der übrig war, hielt
     er sich mit handfesten Informationen bemerkenswert zurück. »Ich
     weiß es nicht.«
    Aber Ros hatte es gewusst.
     Davon war ich plötzlich überzeugt. Ich habe etwas entdeckt,
     Liebes, hatte sie gesagt. Etwas Großes. Größer als Hamlet
     am Globe, hatte sie mit leuchtenden grünen Augen betont. Und ich war
     so selbstgefällig gewesen, sie nicht ernst zu nehmen.
    Der Türöffner
     summte, und ich zuckte zusammen.
    Mit merkwürdiger
     Klarheit wurde eine Stimme von draußen hereingetragen, die ich
     kannte.
    Detective Chief Inspector
     Sinclair.
     
    Zwischenspiel
    Frühling 1598
    Am oberen Absatz einer
     geheimen Treppe blieb sie vor der Tür stehen, die mit einem Teppich
     verhangen war, und strich sich die grüne seidene Robe glatt, die ihr
     dunkles Haar und ihre Augen so gut zur Geltung brachte. Dann zog sie den
     Vorhang ein Stück zurück und spähte in die Kammer. Auf der
     anderen Seite kniete ein junger Mann vor einem Altar, inbrünstig ins
     Gebet vertieft. Er bemerkte ihre Gegenwart nicht.
    Sie zögerte. Ihn
     anzusehen war ihr zum Bedürfnis geworden, so wie man den Flammen im
     Kamin zusieht. Sein goldenes Haar, das wie ein Heiligenschein einen Körper
     von wilder Anmut krönte. Sie erschauerte. Sie musste aufhören,
     ihn »den Knaben« zu nennen. Auch wenn er noch nicht voll zum
     Manne gereift war, so war er längst ein Jüngling. Will.
    Es war ihr anderer Liebhaber
     gewesen, der vorgeschlagen hatte, den Jungen bei dem Namen zu nennen, den
     beide Männer gemeinsam hatten.
    »Und wie soll ich dich
     von nun an nennen?«, hatte sie gefragt.
    »Bei meinem anderen
     Namen«, hatte er lächelnd geantwortet. »Shakespeare.«
     Und dann machte er einen weiteren Vorschlag, der wenig später seinen
     Weg in die Dichtung fand. Will will dir deiner Liehe Schatz erfüllen,
     hatte er geschrieben. Du hast deinen Will’, Will obendrein, und Will
     im Überfluss.
    Es war seine Idee gewesen,
     vor einigen Monaten, dass sie den Knaben verführen sollte. Er hatte
     sie regelrecht angefleht. Sein Vorschlag hatte sie so bestürzt, dass
     sie schweigend dagesessen hatte, während er ruhelos vor ihr auf und
     ab schritt. Erst bat er sie, dann bettelte und schmeichelte er, dann ließ
     er eine Schimpftirade über sie ergehen, bis er von Neuem aufs Betteln
     verfiel.
    Es wäre keine
     unerfreuliche Aufgabe, hatte sie damals gedacht, wie sie sich jetzt
     erinnerte. Der Knabe, Will, war wunderschön - mit seinem golden glänzenden
     Haar, der strahlenden Haut und seinem quecksilbrigen Witz. Er war ihr
     schon bei seinem ersten Auftritt in Shakespeares Truppe aufgefallen, und
     außerdem war ihr aufgefallen, wie die Augen des Älteren dem Jüngeren
     folgten. Sie hätte nicht sagen können, ob der junge Will des
     Älteren Stammverwandter, Protégé oder Liebhaber war,
     und sie hatte auch nicht nachgefragt. Auf jeden Fall wurde Will geliebt,
     auf die eine oder die andere Art.
    »Warum?«, hatte
     sie gefragt, als der Dichter ihr seine Bitte unterbreitete. Was nicht
     bedeutete: »Warum liegt dir daran?«, sondern schlicht: »Warum
     ich?«
    Denn Will hatte nie ein Auge
     auf sie geworfen. Sie war an die Blicke der Männer gewöhnt.
     Selbst die Männer, die sich sonst nur für ihresgleichen
     interessierten, schätzten sie gewöhnlich wie eine Schöpfung
     der Kunst. Doch William Shelton war anders. Er hatte sie gesehen, so viel
     war klar. Sie hatten miteinander gesprochen, ein oder zwei Mal. Doch er
     hatte sie nie angesehen.
    »Warum?«,
     wiederholte sie.
    Shakespeare blieb am Fenster
     stehen und griff nach dem Sims. »Er

Weitere Kostenlose Bücher