Die Shakespeare-Morde
einer Beschreibung versehen aufführte.
Am Ende der Seite war ein Abschnitt, den ich bisher übergangen hatte.
Ich hörte, wie Ben neben mir nach Luft schnappte. Die Worte hatten
sich bereits in mein Gedächtnis geprägt.
»Verschollene Stücke«,
lautete die Überschrift. Es folgten zwei Titel. Der erste war
›Gewonnene Liebesmühe Der zweite war ›Die Geschichte
von Cardenio‹.
Ben sah mich an. »Verschollen?«
»Wir kennen die Titel,
weil die Aufführungen im Kalender des Hofes verzeichnet sind. Wir
wissen, dass die Stücke existiert haben. Aber seit Jahrhunderten hat
niemand auch nur ein Zitat aus einem der beiden Stücke gesehen -
nicht einen zusammenhängenden Satz.« Meine Stimme klang heiser.
»Außer Jeremy Granville.«
Bens Augen weiteten sich.
»Wo?«
Ich schüttelte den Kopf.
Die erste Seite des Briefes fehlte. In dem Teil, der übrig war, hielt
er sich mit handfesten Informationen bemerkenswert zurück. »Ich
weiß es nicht.«
Aber Ros hatte es gewusst.
Davon war ich plötzlich überzeugt. Ich habe etwas entdeckt,
Liebes, hatte sie gesagt. Etwas Großes. Größer als Hamlet
am Globe, hatte sie mit leuchtenden grünen Augen betont. Und ich war
so selbstgefällig gewesen, sie nicht ernst zu nehmen.
Der Türöffner
summte, und ich zuckte zusammen.
Mit merkwürdiger
Klarheit wurde eine Stimme von draußen hereingetragen, die ich
kannte.
Detective Chief Inspector
Sinclair.
Zwischenspiel
Frühling 1598
Am oberen Absatz einer
geheimen Treppe blieb sie vor der Tür stehen, die mit einem Teppich
verhangen war, und strich sich die grüne seidene Robe glatt, die ihr
dunkles Haar und ihre Augen so gut zur Geltung brachte. Dann zog sie den
Vorhang ein Stück zurück und spähte in die Kammer. Auf der
anderen Seite kniete ein junger Mann vor einem Altar, inbrünstig ins
Gebet vertieft. Er bemerkte ihre Gegenwart nicht.
Sie zögerte. Ihn
anzusehen war ihr zum Bedürfnis geworden, so wie man den Flammen im
Kamin zusieht. Sein goldenes Haar, das wie ein Heiligenschein einen Körper
von wilder Anmut krönte. Sie erschauerte. Sie musste aufhören,
ihn »den Knaben« zu nennen. Auch wenn er noch nicht voll zum
Manne gereift war, so war er längst ein Jüngling. Will.
Es war ihr anderer Liebhaber
gewesen, der vorgeschlagen hatte, den Jungen bei dem Namen zu nennen, den
beide Männer gemeinsam hatten.
»Und wie soll ich dich
von nun an nennen?«, hatte sie gefragt.
»Bei meinem anderen
Namen«, hatte er lächelnd geantwortet. »Shakespeare.«
Und dann machte er einen weiteren Vorschlag, der wenig später seinen
Weg in die Dichtung fand. Will will dir deiner Liehe Schatz erfüllen,
hatte er geschrieben. Du hast deinen Will’, Will obendrein, und Will
im Überfluss.
Es war seine Idee gewesen,
vor einigen Monaten, dass sie den Knaben verführen sollte. Er hatte
sie regelrecht angefleht. Sein Vorschlag hatte sie so bestürzt, dass
sie schweigend dagesessen hatte, während er ruhelos vor ihr auf und
ab schritt. Erst bat er sie, dann bettelte und schmeichelte er, dann ließ
er eine Schimpftirade über sie ergehen, bis er von Neuem aufs Betteln
verfiel.
Es wäre keine
unerfreuliche Aufgabe, hatte sie damals gedacht, wie sie sich jetzt
erinnerte. Der Knabe, Will, war wunderschön - mit seinem golden glänzenden
Haar, der strahlenden Haut und seinem quecksilbrigen Witz. Er war ihr
schon bei seinem ersten Auftritt in Shakespeares Truppe aufgefallen, und
außerdem war ihr aufgefallen, wie die Augen des Älteren dem Jüngeren
folgten. Sie hätte nicht sagen können, ob der junge Will des
Älteren Stammverwandter, Protégé oder Liebhaber war,
und sie hatte auch nicht nachgefragt. Auf jeden Fall wurde Will geliebt,
auf die eine oder die andere Art.
»Warum?«, hatte
sie gefragt, als der Dichter ihr seine Bitte unterbreitete. Was nicht
bedeutete: »Warum liegt dir daran?«, sondern schlicht: »Warum
ich?«
Denn Will hatte nie ein Auge
auf sie geworfen. Sie war an die Blicke der Männer gewöhnt.
Selbst die Männer, die sich sonst nur für ihresgleichen
interessierten, schätzten sie gewöhnlich wie eine Schöpfung
der Kunst. Doch William Shelton war anders. Er hatte sie gesehen, so viel
war klar. Sie hatten miteinander gesprochen, ein oder zwei Mal. Doch er
hatte sie nie angesehen.
»Warum?«,
wiederholte sie.
Shakespeare blieb am Fenster
stehen und griff nach dem Sims. »Er
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