Die Shakespeare-Morde
einmal erkannte, wenn sie direkt vor seiner Nase passierte, selbst wenn er zehn
Jahre beim Trojanischen Krieg mitgemacht hätte - was ebenfalls
stimmte. Pope hat ein satirisches Heldengedicht verfasst, die ›Dunciade‹,
in dem er Theobald zum König der Dummköpfe krönt.«
Ben lachte. »Die Feder
ist wohl mächtiger als das Schwert?«
»In Popes Fall mächtiger
als eine ganze bewaffnete Brigade. Und noch ein oder zwei Kriegsschiffe
dazu, sicherheitshalber.«
»Keine weise Wahl, sich
Mr Pope zum Feind zu machen. Haben Sie das Stück gelesen?«
»Nein. Es ist schwer
aufzutreiben. Ich wünschte, ich hätte davon gewusst, als wir in
Harvard waren. Aber vielleicht finden wir etwas im Internet. Die
Spezialisten für das 18. Jahrhundert waren die ersten, die alles, was
sie in die Finger bekamen, ins Internet stellten. Dicht gefolgt von der
Shakespeare-Clique.«
Ben griff auf den Rücksitz
und packte seinen Laptop aus.
»Sie glauben wirklich,
dass es hier, in der Metropole, Internet gibt?« Wir überquerten
einen Pass, und auf der anderen Seite schrumpfte die Straße zu einem
schmalen Felsvorsprung, der sich an eine Bergwand drängte. Links
unter den hohen baumlosen Gipfeln fiel der Wald steil zu uns herab. Rechts
verschwanden die Bäume in einer fast senkrechten Schlucht. Wir fuhren
immer noch ohne Scheinwerfer. In dem schrägen Ausschnitt der Welt,
der vor uns lag, war nicht der geringste Schein eines Lichts oder Feuers
zu sehen. Bis auf die Straße gab es kein Anzeichen dafür, dass
je ein Mensch hier gewesen war.
»Es gibt Satelliten.«
Ben drückte ein paar Tasten, und sein Laptop erwachte mit einer
leisen Melodie zum Leben. Blaues Licht erfüllte den Wagen. Ich hörte,
wie er weitere Tasten tippte, und dann färbte sich das Licht weiß
und rosa. »Schau mal einer an«, sagte Ben. »›Dopelte
Falschheit oder Die unglücklich Verliebtem.« Er drückte
eine Taste. »Was wollen Sie zuerst hören? Das Stück oder
den ganzen Kram, der vorausgeht? Widmung, Vorwort des Herausgebers,
Prolog?«
»Das Vorwort«,
sagte ich, und mein Griff um das Lenkrad wurde fester. Mein Blick war
starr auf den schwach schimmernden Mittelstreifen gerichtet.
»Klingt, als hätte
sich König Theobald von Anfang an verteidigen müssen. Hören
Sie sich das an: Es wird behauptet, es sei unglaublich, daß ein solches Curiosum dem
Vergessen anheim gefallen und der Welt über ein Jahrhundert lang
entrissen sein könne.«
»Inzwischen sind es
fast vierhundert Jahre«, sagte ich.
Ben überflog den Text.
»Hey!«, rief er so plötzlich, dass ich zusammenschrak.
»Wussten Sie, dass Shakespeare eine uneheliche Tochter hatte?«
Ich machte ein finsteres
Gesicht.
»Das heißt also
nein«, sagte Ben.
»Darüber gibt es
nichts in den Quellen.«
»Es sei denn, Sie zählen
das hier als Quelle.«
Ich schüttelte den Kopf.
Ich hatte Jahre mit Shakespeare-Forschung verbracht, und ich hatte noch
nie gehört, dass jemand Theobalds Vorwort als historische Quelle zählte.
»Es giebt eine Überlieferung«,
las er weiter,»Die mir von jener edlen Person zugetragen wurde, der
ich eins meiner Original-Manuscripte verdanke) -«
»Original-Manuskripte?«,
fragte ich ungläubig. »Manuskripte, im Plural?«
»Er behauptet, er hätte
drei.«
Ich lachte matt, während
Ben von vorn begann. »Es giebt eine Überlieferung (die mir von
jener edlen Person zugetragen wurde, der ich eins meiner
Original-Manuscripte verdanke), die besagt, daß dies Drama von
unserem Verfasser seiner natürlichen Tochter gewidmet war, als Gabe
der Werth-Schätzung, um deretwillen er es schrieb, ehe er sich von
der Bühne zurückzog. Warum nennt man außereheliche Kinder
eigentlich ›natürlich‹? Sind eheliche Kinder ›unnatürlich‹?
Und was ist so witzig auf Ihrer Seite des Wagens?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nichts. Nur, bis auf die Tatsache, dass Shakespeare geboren wurde
und starb, sind nicht viele verbindliche Tatsachen über sein Leben
bekannt. Sie haben gerade die Hälfte davon zunichtegemacht.«
Ich zählte die Fakten auf. »›Cardenio‹ ist
verschollen, es gibt keine Shakespeare-Manuskripte, und er war, obwohl er
das Ehebett nicht oft besuchte, fruchtbar und mehrte sich, wenn er es tat:
Er hatte drei Kinder, alle ehelich … Und jetzt reden wir plötzlich
von drei Manuskripten von ›Cardenio‹ und einem Bankert
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