Die Shakespeare-Morde
obendrein.«
Ben starrte den Bildschirm
an, als hoffte er, der Computer würde einen Kommentar dazu abgeben.
»Glauben Sie, Granvilles Manuskript war eins von Theobalds?
Vielleicht hat er es irgendwie in die Finger gekriegt und es mit in den
Westen genommen.«
»Vielleicht«,
sagte ich skeptisch. »Aber Granville schreibt, er glaubt, das
Manuskript sei schon kurz nach seiner Entstehung an der Stelle gelandet,
wo er es fand.«
»Und das kommt Ihnen
plausibel vor?«
»Nein. Andererseits
kommt mir nichts von allem plausibel vor.«
Ben ging zum Prolog über,
und das Erste, was mir auffiel, war, dass er ein guter Vorleser war. Sein
natürlicher Tonfall passte sich leicht den Rhythmen der Verse an. Als
Zweites fiel mir auf, dass das Stück grauenhaft war. Sir Henry hätte
es in einem gnädigen Moment vielleicht als edle Ruine bezeichnet; Ros
hätte es als »Schande« in die Ecke geschleudert.
Quixote und Sancho Pansa
kamen nirgends vor. Die anderen Figuren waren wiederzuerkennen, doch
Theobald hatte ihre Namen geändert. Es war so verwirrend, dass Ben
bald wieder auf Cevantes’ Namen zurückgriff. Doch die Löcher
in der Geschichte konnte er nicht flicken.
Es hörte sich an, als hätten
seit 1728 die Motten daran gefressen. Oder Krokodile. Aus dem ganzen Stück
war die Sünde weiträumig ausradiert worden und im gleichen
Aufwasch auch jede Spannung, jedes Handlungsmoment. Übrig blieb eine
Handvoll Leute, die lahm auf der Bühne herumstanden und
andeutungsweise von Ereignissen sprachen, die sich der Zuschauer selbst
zusammenreimen konnte: eine Vergewaltigung, eine wilde Prügelei bei
einer Hochzeit, eine Entführung aus dem Kloster. Hätte Theobald
die Genesis adaptiert, dachte ich enttäuscht, hätte er nur die
Unterhaltung zwischen Eva und der Schlange beibehalten, die Geschichte mit
dem Apfel, den Feigenblättern und der Vertreibung aus dem Paradies hätte
er ersatzlos gestrichen. Dann hätte er Evas beide Dialoge, den mit
Gott und den mit der Schlange, zusammengeschnitten, um sowohl Zeit als
auch die Gage für einen Schauspieler zu sparen. Dass die Geschichte
am Ende keinen Sinn ergab, schien für Theobald kein Kriterium zu
sein.
»Mehr Mist als
Shakespeare«, stellte Ben fest. Im Großen und Ganzen hatte er
recht. Und doch gab es die eine oder andere Passage, die von betörendem
Liebreiz war:
Habt Ihr je den irdischen
Phoenix gesehen, den Paradiesvogel?
Ich sah ihn: ich kenne
seine Gefilde und weiß, wo er sein duftendes Nest baut: bis ich
gutgläubiger Narr einem Freund den Schatz anvertraute und er mich
seiner beraubte.
Fast sah ich ihn vor mir, den
Glanz der roten und goldenen Federn hinter dem dunklen Gespinst der
Zweige, fast roch ich Jasmin und Sandelholz im Wind, hörte das
schreckliche Brechen eines Herzens. Auch Ben schien es zu spüren,
denn er war still geworden.
»Komisch«, sagte
er nach einem Moment. »Es ist nicht nur ein schönes Gedicht. Im
Dialog sind die Verse sogar witzig. Ich habe es Ihnen als Monolog
vorgelesen, doch es ist keiner. Cardenio redet mit einem Schafhirten. Der
arme Tropf hat wahrscheinlich in seinem Leben nichts Exotischeres gesehen
als ein geschecktes Schaf, und jetzt steht da dieser Verrückte vor
ihm und redet von Phönixen und duftenden Nestern … Kommen Sie,
wir probieren es aus. Sie lesen den Hirten.«
»Ich dachte, ich soll
fahren.«
»Sie müssen nur
verwirrt aus der Wäsche gucken, und wenn ich Ihnen das Zeichen gebe,
sagen Sie: ›Bei meiner Ehre, Sir, ich nicht‹ Schaffen Sie
das?«
»Bei meiner Ehre, Sir,
ich nicht.«
»Bravo. Wackerer Hirte
… Regie führen könnte mir auch Spaß machen. Dieser
angenehme Rausch von Macht. Was muss ich sagen, wenn ich will, dass es
losgeht?«
»Ladys und Gentlemen,
wir sind so weit.« Der Satz des Inspizienten kam mir wie automatisch
über die Lippen, und mit einem Stich spürte ich, wie sehr ich
das Theater vermisste.
»Also gut …
Ladys und Gentlemen, wir sind so weit.« Damit gab er sich selbst das
Stichwort und stürzte sich in die Szene.
Euer Blick, Sir, ist von
wunderbarer Weisheit,
Und seid, wie’s
scheint, in Wissen weit bewandert;
Habt Ihr jeden irdischen
Phoenix -
Irgendwo in meiner Erinnerung
klingelte es. »Was haben Sie gesagt?«
»Das ist nicht Ihr
Text.«
»Vergessen Sie meinen
Text. Lesen Sie Ihren noch mal.«
»Euer Blick, Sir, ist
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