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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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obendrein.«
    Ben starrte den Bildschirm
     an, als hoffte er, der Computer würde einen Kommentar dazu abgeben.
     »Glauben Sie, Granvilles Manuskript war eins von Theobalds?
     Vielleicht hat er es irgendwie in die Finger gekriegt und es mit in den
     Westen genommen.«
    »Vielleicht«,
     sagte ich skeptisch. »Aber Granville schreibt, er glaubt, das
     Manuskript sei schon kurz nach seiner Entstehung an der Stelle gelandet,
     wo er es fand.«
    »Und das kommt Ihnen
     plausibel vor?«
    »Nein. Andererseits
     kommt mir nichts von allem plausibel vor.«
    Ben ging zum Prolog über,
     und das Erste, was mir auffiel, war, dass er ein guter Vorleser war. Sein
     natürlicher Tonfall passte sich leicht den Rhythmen der Verse an. Als
     Zweites fiel mir auf, dass das Stück grauenhaft war. Sir Henry hätte
     es in einem gnädigen Moment vielleicht als edle Ruine bezeichnet; Ros
     hätte es als »Schande« in die Ecke geschleudert.
    Quixote und Sancho Pansa
     kamen nirgends vor. Die anderen Figuren waren wiederzuerkennen, doch
     Theobald hatte ihre Namen geändert. Es war so verwirrend, dass Ben
     bald wieder auf Cevantes’ Namen zurückgriff. Doch die Löcher
     in der Geschichte konnte er nicht flicken. 
    Es hörte sich an, als hätten
     seit 1728 die Motten daran gefressen. Oder Krokodile. Aus dem ganzen Stück
     war die Sünde weiträumig ausradiert worden und im gleichen
     Aufwasch auch jede Spannung, jedes Handlungsmoment. Übrig blieb eine
     Handvoll Leute, die lahm auf der Bühne herumstanden und
     andeutungsweise von Ereignissen sprachen, die sich der Zuschauer selbst
     zusammenreimen konnte: eine Vergewaltigung, eine wilde Prügelei bei
     einer Hochzeit, eine Entführung aus dem Kloster. Hätte Theobald
     die Genesis adaptiert, dachte ich enttäuscht, hätte er nur die
     Unterhaltung zwischen Eva und der Schlange beibehalten, die Geschichte mit
     dem Apfel, den Feigenblättern und der Vertreibung aus dem Paradies hätte
     er ersatzlos gestrichen. Dann hätte er Evas beide Dialoge, den mit
     Gott und den mit der Schlange, zusammengeschnitten, um sowohl Zeit als
     auch die Gage für einen Schauspieler zu sparen. Dass die Geschichte
     am Ende keinen Sinn ergab, schien für Theobald kein Kriterium zu
     sein.
    »Mehr Mist als
     Shakespeare«, stellte Ben fest. Im Großen und Ganzen hatte er
     recht. Und doch gab es die eine oder andere Passage, die von betörendem
     Liebreiz war:
     
    Habt Ihr je den irdischen
     Phoenix gesehen, den Paradiesvogel?
    Ich sah ihn: ich kenne
     seine Gefilde und weiß, wo er sein duftendes Nest baut: bis ich
     gutgläubiger Narr einem Freund den Schatz anvertraute und er mich
     seiner beraubte.
     
    Fast sah ich ihn vor mir, den
     Glanz der roten und goldenen Federn hinter dem dunklen Gespinst der
     Zweige, fast roch ich Jasmin und Sandelholz im Wind, hörte das
     schreckliche Brechen eines Herzens. Auch Ben schien es zu spüren,
     denn er war still geworden.
    »Komisch«, sagte
     er nach einem Moment. »Es ist nicht nur ein schönes Gedicht. Im
     Dialog sind die Verse sogar witzig. Ich habe es Ihnen als Monolog
     vorgelesen, doch es ist keiner. Cardenio redet mit einem Schafhirten. Der
     arme Tropf hat wahrscheinlich in seinem Leben nichts Exotischeres gesehen
     als ein geschecktes Schaf, und jetzt steht da dieser Verrückte vor
     ihm und redet von Phönixen und duftenden Nestern … Kommen Sie,
     wir probieren es aus. Sie lesen den Hirten.«
    »Ich dachte, ich soll
     fahren.«
    »Sie müssen nur
     verwirrt aus der Wäsche gucken, und wenn ich Ihnen das Zeichen gebe,
     sagen Sie: ›Bei meiner Ehre, Sir, ich nicht‹ Schaffen Sie
     das?«
    »Bei meiner Ehre, Sir,
     ich nicht.«
    »Bravo. Wackerer Hirte
     … Regie führen könnte mir auch Spaß machen. Dieser
     angenehme Rausch von Macht. Was muss ich sagen, wenn ich will, dass es
     losgeht?«
    »Ladys und Gentlemen,
     wir sind so weit.« Der Satz des Inspizienten kam mir wie automatisch
     über die Lippen, und mit einem Stich spürte ich, wie sehr ich
     das Theater vermisste.
    »Also gut …
     Ladys und Gentlemen, wir sind so weit.« Damit gab er sich selbst das
     Stichwort und stürzte sich in die Szene.
     
    Euer Blick, Sir, ist von
     wunderbarer Weisheit,
    Und seid, wie’s
     scheint, in Wissen weit bewandert;
    Habt Ihr jeden irdischen
     Phoenix -
     
    Irgendwo in meiner Erinnerung
     klingelte es. »Was haben Sie gesagt?«
    »Das ist nicht Ihr
     Text.«
    »Vergessen Sie meinen
     Text. Lesen Sie Ihren noch mal.«
    »Euer Blick, Sir, ist
    

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