Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
Vom Netzwerk:
viel.
     Alle zwanzig Minuten tauchte ein Pkw oder ein Sattelschlepper aus der
     Dunkelheit vor uns auf, der direkt auf uns zuzuhalten schien, bis er im
     letzten Moment knapp an uns vorbeischoss. Der Highway schmiegte sich an
     den Fuß der Sandsteinklippen, und ich hatte das Gefühl, wir
     jagten am Grund eines Ozeans der Finsternis dahin. Im Süden begann
     der Grand Canyon und fiel wie ein Tiefseegraben in noch schwärzere
     Finsternis hinab. Von dem Wagen, der uns in den Bergen gefolgt war, fehlte
     jede Spur.          
    Irgendwo nördlich von
     Flagstaff schlief ich ein.
    Ich wachte auf, als unser
     Wagen von Asphalt auf Schotter rumpelte. Ben war auf eine unbefestigte
     Piste abgebogen und steuerte auf eine Gruppe flacher, mit Kreosotbüschen
     und Kakteen bewachsener Hügel zu. Die Welt hatte sich blassgelb gefärbt.
    »Fast da«, sagte
     er.
    Die Uhr zeigte sechs. »Wir
     sind früh dran.«
    »Nicht zu früh.«
    Weder Highway noch Landstraße
     waren in Sicht. Auch keine anderen Autos. Oder Gebäude. »Ist
     uns jemand gefolgt?«
    »Ich habe niemanden
     gesehen.«
    Ben hielt den Wagen an und
     stieg aus. Ich streckte mich, dann folgte ich ihm. Wir standen auf einem
     leeren Parkplatz vor einem alten Viehzaun. Am Tor hing ein Schild mit
     roter Schrift: BITTE WARTEN SIE HIER AUF DIE NÄCHSTE TOUR. Ben griff
     durch das Gatter und schob den Riegel zurück.
    Vor uns führte eine
     breite Sandpiste nach rechts den Hügel hinunter. Gesäumt wurde
     sie von leeren Gebäuden, die meisten im Adobe-Stil und mit rostigem
     Blech gedeckt; ein paar sahen aus, als wären sie aus alten
     Eisenbahnschwellen zusammengezimmert worden. Am Fuß des Hügels
     endete die Straße. Hinter einer Häusergruppe ragte ein hoher
     Giebel auf. Es sah aus, als hätten die Bewohner die Kirche gegen die
     sündige Straße abschotten wollen.
    Das größte Gebäude
     stand ein Stück weiter unten auf der anderen Seite. Ein rotes Schild
     verkündete mit verschnörkelten Buchstaben: THE STRATFORD HOTEL.
     Im Innern brannte Licht. Ben und ich sahen uns an, dann gingen wir auf das
     Hotel zu.
    Ein langer schmaler Tisch
     streckte sich in den dämmrigen Gastraum hinein. Darüber war ein
     Musselinhimmel an die Decke genagelt. Beim Klang unserer Schritte huschte
     etwas über die Balken davon. Die Wände waren einst weiß
     verputzt gewesen, doch die Farbe blätterte mitsamt dem Mörtel in
     großen Brocken ab. Es roch nach Staub und Einsamkeit.
    »Billy the Kid hat
     hinten in der Küche Teller gespült«, sagte eine rauchige
     Stimme hinter uns im Tonfall der neuenglischen Oberschicht. »Bevor
     er Spaß am Töten fand.«
    Als ich mich umdrehte, stand
     eine kleine Frau mit makellos frisiertem weißen Haar vor mir. Sie
     war schlank und trug ein elegantes Kostüm aus cremefarbener Seide mit
     blattförmigen Bronzeknöpfen. Ein Blick genügte, und selbst
     ich sah, dass das Kostüm nicht von der Stange kam - nicht einmal von
     Saks oder Bergdorf Goodman. Es war ihr auf den Leib geschneidert,
     wahrscheinlich in irgendeinem hehren Modetempel in Paris oder New York vom
     Designer persönlich.
    »Auch wenn Shakespeare
     ihn vielleicht gelehrt hat, dass das Leben billig, aber der Tod noch
     billiger ist«, fuhr sie fort. »Ich spreche natürlich von
     dem Ort, nicht von dem Dramatiker.«
    Sie streckte mir die Hand
     entgegen - die Hand einer älteren Dame, die ein Leben lang in
     Reichtum gelebt hatte, mit weißer, blau geäderter Porzellanhaut
     und perfekt manikürten Nägeln, die dezent rosa lackiert waren.
     »Ich bin Athenaide Preston. Bitte nennen Sie mich Athenaide. Sie
     sind Dr. Katharine Stanley?«
    »Wenn ich Athenaide zu
     Ihnen sage, müssen Sie mich Kate nennen.«
    »Einigen wir uns auf
     Katharine.« Ihr Blick fiel auf Ben, und sie musterte ihn, als würde
     sie ein Vollblutpferd begutachten. »Und Freund.«
    »Ben Pearl«,
     stellte ich vor.
    »Willkommen in
     Shakespeare, Benjamin Pearl. Sehen wir mal, ob ich mich noch an die Tour
     erinnere.« Sie ging voran, in den Gastraum hinein, und zeigte auf
     einen dunklen Fleck an der Wand in einer Ecke. »Da hinten wurde der
     Sohn des Hauses von einem Mann namens Bean Belly Smith wegen eines Frühstückseis
     erschossen. Der Junge hatte zu seinem Milchbrötchen mit Salzfleisch
     ein Ei bekommen, Bean Belly nicht. Bean Belly machte ein paar Bemerkungen
     über die Dame des Hauses, worauf ihr Sohn die Waffe zog, doch Bean
     Belly zog schneller. Der Junge starb, das Ei im Bauch mit

Weitere Kostenlose Bücher