Die Shakespeare-Morde
viel.
Alle zwanzig Minuten tauchte ein Pkw oder ein Sattelschlepper aus der
Dunkelheit vor uns auf, der direkt auf uns zuzuhalten schien, bis er im
letzten Moment knapp an uns vorbeischoss. Der Highway schmiegte sich an
den Fuß der Sandsteinklippen, und ich hatte das Gefühl, wir
jagten am Grund eines Ozeans der Finsternis dahin. Im Süden begann
der Grand Canyon und fiel wie ein Tiefseegraben in noch schwärzere
Finsternis hinab. Von dem Wagen, der uns in den Bergen gefolgt war, fehlte
jede Spur.
Irgendwo nördlich von
Flagstaff schlief ich ein.
Ich wachte auf, als unser
Wagen von Asphalt auf Schotter rumpelte. Ben war auf eine unbefestigte
Piste abgebogen und steuerte auf eine Gruppe flacher, mit Kreosotbüschen
und Kakteen bewachsener Hügel zu. Die Welt hatte sich blassgelb gefärbt.
»Fast da«, sagte
er.
Die Uhr zeigte sechs. »Wir
sind früh dran.«
»Nicht zu früh.«
Weder Highway noch Landstraße
waren in Sicht. Auch keine anderen Autos. Oder Gebäude. »Ist
uns jemand gefolgt?«
»Ich habe niemanden
gesehen.«
Ben hielt den Wagen an und
stieg aus. Ich streckte mich, dann folgte ich ihm. Wir standen auf einem
leeren Parkplatz vor einem alten Viehzaun. Am Tor hing ein Schild mit
roter Schrift: BITTE WARTEN SIE HIER AUF DIE NÄCHSTE TOUR. Ben griff
durch das Gatter und schob den Riegel zurück.
Vor uns führte eine
breite Sandpiste nach rechts den Hügel hinunter. Gesäumt wurde
sie von leeren Gebäuden, die meisten im Adobe-Stil und mit rostigem
Blech gedeckt; ein paar sahen aus, als wären sie aus alten
Eisenbahnschwellen zusammengezimmert worden. Am Fuß des Hügels
endete die Straße. Hinter einer Häusergruppe ragte ein hoher
Giebel auf. Es sah aus, als hätten die Bewohner die Kirche gegen die
sündige Straße abschotten wollen.
Das größte Gebäude
stand ein Stück weiter unten auf der anderen Seite. Ein rotes Schild
verkündete mit verschnörkelten Buchstaben: THE STRATFORD HOTEL.
Im Innern brannte Licht. Ben und ich sahen uns an, dann gingen wir auf das
Hotel zu.
Ein langer schmaler Tisch
streckte sich in den dämmrigen Gastraum hinein. Darüber war ein
Musselinhimmel an die Decke genagelt. Beim Klang unserer Schritte huschte
etwas über die Balken davon. Die Wände waren einst weiß
verputzt gewesen, doch die Farbe blätterte mitsamt dem Mörtel in
großen Brocken ab. Es roch nach Staub und Einsamkeit.
»Billy the Kid hat
hinten in der Küche Teller gespült«, sagte eine rauchige
Stimme hinter uns im Tonfall der neuenglischen Oberschicht. »Bevor
er Spaß am Töten fand.«
Als ich mich umdrehte, stand
eine kleine Frau mit makellos frisiertem weißen Haar vor mir. Sie
war schlank und trug ein elegantes Kostüm aus cremefarbener Seide mit
blattförmigen Bronzeknöpfen. Ein Blick genügte, und selbst
ich sah, dass das Kostüm nicht von der Stange kam - nicht einmal von
Saks oder Bergdorf Goodman. Es war ihr auf den Leib geschneidert,
wahrscheinlich in irgendeinem hehren Modetempel in Paris oder New York vom
Designer persönlich.
»Auch wenn Shakespeare
ihn vielleicht gelehrt hat, dass das Leben billig, aber der Tod noch
billiger ist«, fuhr sie fort. »Ich spreche natürlich von
dem Ort, nicht von dem Dramatiker.«
Sie streckte mir die Hand
entgegen - die Hand einer älteren Dame, die ein Leben lang in
Reichtum gelebt hatte, mit weißer, blau geäderter Porzellanhaut
und perfekt manikürten Nägeln, die dezent rosa lackiert waren.
»Ich bin Athenaide Preston. Bitte nennen Sie mich Athenaide. Sie
sind Dr. Katharine Stanley?«
»Wenn ich Athenaide zu
Ihnen sage, müssen Sie mich Kate nennen.«
»Einigen wir uns auf
Katharine.« Ihr Blick fiel auf Ben, und sie musterte ihn, als würde
sie ein Vollblutpferd begutachten. »Und Freund.«
»Ben Pearl«,
stellte ich vor.
»Willkommen in
Shakespeare, Benjamin Pearl. Sehen wir mal, ob ich mich noch an die Tour
erinnere.« Sie ging voran, in den Gastraum hinein, und zeigte auf
einen dunklen Fleck an der Wand in einer Ecke. »Da hinten wurde der
Sohn des Hauses von einem Mann namens Bean Belly Smith wegen eines Frühstückseis
erschossen. Der Junge hatte zu seinem Milchbrötchen mit Salzfleisch
ein Ei bekommen, Bean Belly nicht. Bean Belly machte ein paar Bemerkungen
über die Dame des Hauses, worauf ihr Sohn die Waffe zog, doch Bean
Belly zog schneller. Der Junge starb, das Ei im Bauch mit
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