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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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von wunderbarer Weisheit…«
    Ich trat so fest auf die
     Bremse, dass das Heck des Wagens ausbrach, als wir in einer halbmondförmigen
     Parkbucht zum Stehen kamen. »Der Brief«, rief ich. »Granvilles
     Brief. Wo ist er?« Ich drehte mich um und begann in den Taschen auf
     der Rückbank zu wühlen.
    Ben griff hinter seinen Sitz,
     zog die Tüte hervor und fischte Granvilles Brief aus dem Notizblock.
     Ich überflog die Handschrift, bis ich die Stelle hatte, die ich
     suchte. Dann hielt ich ihm den Brief hin.
    »Ihr Blick, Sir, sei
     von wunderbarer Weisheit«, las er.
    »Sie hatten recht,
     heute Morgen in der Buchhandlung. Das hat kein alter Goldgräber
     geschrieben.«
    Ben sah mich an. »Sie
     meinen, Granville kannte Theobalds Stück?«
    Das Blut pulsierte in meinen
     Schläfen. »Unwahrscheinlich.« Theobalds Adaption war längst
     in den Bibliotheken verstaubt, als Granville zur Welt kam. Und Granville
     hatte kein Internet, um seltene Texte aufzuspüren.
    »Wenn er ›Dopelte
     Falschheit nicht kannte«, sagte Ben langsam, »dann ist der
     einzige Ort, wo er die Worte herhaben konnte, das Manuskript, von dem er
     schrieb. Was bedeutet…«
    »Dass diese Zeile nicht
     von Theobald stammt.«
    Keiner von uns wagte es, den
     Gedanken laut auszusprechen: Sondern von Shakespeare.
    Ich stieg aus und ging an den
     Rand der Klippe. Die Parkbucht war ein Aussichtspunkt. Wir standen auf
     einem hohen Felsvorsprung, der sich wie eine natürliche Loggia über
     ein tiefes, breites Tal hinausstreckte. Das Tal war auf allen Seiten von
     fernen Gipfeln gesäumt, die sich schwarz vom Nachthimmel abhoben.
     Dreihundert Meter unter uns bedeckte der Wald den Grund des Tals wie ein
     dicker Teppich. Im Süden glänzten die Felsen von Zion im
     Mondlicht wie schimmernde Vorhänge, die den Eingang zu einer anderen
     Welt verdeckten.
    »Vielleicht Fletcher«,
     sagte Ben schroff. »Chambers sagt, das Stück war eine
     Gemeinschaftsarbeit.«
    »Vielleicht«, gab
     ich zu. »Aber Sie haben selbst bemerkt, wie Lyrik und Komödie
     an dieser Stelle verwoben sind - und das ist einer von Shakespeares
     Lieblingstricks. In seinem ganzen Werk gibt es kaum eine Passage von
     hehrer Schönheit, die nicht von einem Stück spitzfindiger Komödie
     oder Ironie ummantelt wird. Als hätte er der reinen Schönheit
     nicht getraut.«
    »Theobald hatte das Stück«,
     sagte Ben. Er schüttelte den Kopf. »Stellen Sie sich das vor.
     Er hatte Gold, und er hat Stroh daraus gemacht.«
    »Und dann hat er
     verbummelt, was übrig war«, schnaubte ich. »Die
     Manuskripte sind verschwunden. Vermutlich in dem Feuer verbrannt, das sein
     Theater zerstörte.«
    »Eine Menge Brände,
     die Shakespeare verfolgen«, stellte Ben fest.
    Doch ich war zu sehr mit
     Granville beschäftigt, um einen Gedanken für Theobald übrig
     zu haben. Wenn Granville die Zeile lesen konnte, die er zitierte, dann war
     er also doch in der Lage, die komplizierten Schnörkel der Secretary
     Hand zu entziffern. Und wenn er Secretary Hand lesen konnte, dann musste
     ich recht haben mit dem Verdacht, der mir im Archiv gekommen war:
     Granville wusste haargenau, was er da hatte, als er an Professor Child
     schrieb.
    Wer war er, dieser spielsüchtige
     Goldgräber, der sich so gut auskannte in den dunklen Winkeln der
     englischen Renaissance-Literatur? Und warum stellte er sich unwissend?
    Ich sah Ben an, doch er
     blickte mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
     Nach ein paar Sekunden entdeckte ich, wonach er Ausschau hielt. Ein
     Flimmern, etwa einen Kilometer unter uns.
    »Was ist das?«
    »Ein Wagen«,
     sagte er, und ich spürte seine Spannung.
    Da sah ich es wieder -
     Mondlicht spiegelte sich auf Autolack. Und dann erst begriff ich, was ich
     nicht sah: Scheinwerferlicht.
    »Steigen Sie ein«,
     sagte Ben und öffnete mir die Beifahrertür.
    Ich protestierte nicht.

 
    22
    Ben fuhr schneller ohne
     Licht, als ich es mit Fernlicht und ein paar Suchscheinwerfern extra
     gewagt hätte. Irgendwann wurde die Steigung flacher, und wir jagten
     über ein Hochplateau. Ben musste mich nicht erst bitten, die Straße
     hinter uns im Auge zu behalten, doch ich sah nichts als die gespenstischen
     Umrisse einsamer Mammutbäume und Felsblöcke.
    Dann fiel die Straße
     wieder ab. Die Bäume wurden kleiner und spärlicher und waren
     bald ganz verschwunden. Am Fuß der Berge nahmen wir den Highway 89
     nach Süden, wo der Verkehr etwas dichter wurde, wenn auch nicht

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