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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Schieferdach wurde von drei Giebeln unterbrochen, und zu beiden
     Seiten erhoben sich Türme mit spitzen, grünstichigen Kupferdächern.
     In der Mitte entdeckte ich das, was ich von der anderen Seite für
     einen Kirchturm gehalten hatte, eine verschnörkelte Kaskade von Säulen
     und Kuppeln, gekrönt von einer spiralförmigen Turmspitze.
     Darunter führte ein Torbogen in den Innenhof, flankiert von einem
     Neptun, der einen Dreizack schwang, und einem Hermes in geflügelten
     Sandalen.
    Ich schloss die Augen.
     »Ich kenne das Schloss.«
    »Das dachte ich mir«,
     sagte Athenaide.
    »Sie waren schon mal
     hier?«, fragte Ben.
    »Nein«,
     antwortete Athenaide statt meiner. »Aber ich verwette ein Königreich,
     dass sie seinen Namensvetter besucht hat.«
    Ich öffnete die Augen
     wieder. »Helsingor.«
    Sie lächelte. »Oder
     genauer Schloss Kronborg, in Helsingor, am Öresund.« Athenaide
     formte die skandinavischen Vokale wie eine Einheimische.
    »Dänemark«,
     erklärte ich Ben.
    »Hamlets Heim«,
     sagte Athenaide. Dann ging sie in den Innenhof voraus, und wir folgten
     ihr.
    »Sie haben sich mitten
     in der Wüste von New Mexico eine Kopie von Helsingor bauen lassen?«,
     fragte ich fassungslos.
    Vor einer reich verzierten Tür
     blieb sie stehen und lachte. »Nicht wirklich eine Kopie. Eher eine
     kleine Hommage.«
    »Warum?«
    »Das Original wollten
     die Dänen nicht verkaufen.« Sie winkte uns herein. »Nach
     Ihnen.«
    Wieder griff Ben nach meinem
     Arm, doch ich machte mich los und folgte Athenaide.
    Wir standen in einer weitläufigen
     Galerie mit Schachbrettboden aus weißem und schwarzem Marmor. Auf
     einer Seite hingen große Gemälde an der weißen Wand, die
     aussahen wie die schwülstigsten Schinken der alten Meister. Auf der
     anderen Seite waren zwischen hohen Säulen riesige Fensterflächen
     mit Rautenscheiben eingelassen.
    »Geradeaus, und dann
     rechts«, dirigierte Athenaide. »Halt«, sagte sie dann.
     Sie stand mit verschränkten Armen vor einer geschlossenen Flügeltür.
     »Eine Frage haben Sie beantwortet, zwei sind noch offen. Warum möchten
     Sie die persönlichen Gegenstände von Jeremy Granville, Bürger
     von Tombstone, sehen - so dringend, dass Sie tausend Kilometer durch die
     Nacht fahren, in einem Tempo, das Ihnen kein Polizist durchgehen lassen würde?«          
    Was sollte ich sagen? Weil
     Ros sich dafür interessiert hatte und jetzt tot war? Ich räusperte
     mich. »Ich bin an ›Hamlet‹ interessiert, und Granville
     hat einmal wegen einer Wette den Hamlet gespielt.«
    »Eine akzeptable, wenn
     auch unaufrichtige Antwort. Wahrscheinlich genau der Grund, aus dem ich
     die Sachen gekauft habe. Auch ich bin fasziniert von ›Hamlet‹.
     Aber natürlich ist das nicht der Grund, aus dem wir beide uns im
     Moment für Granville interessieren. Trotzdem lasse ich die Antwort
     gelten.« Sie drehte sich um und drückte mit großer Geste
     die Flügeltür auf. »Willkommen in der Großen Halle.«
    ›Groß‹
     war eine schamlose Untertreibung, selbst für ein Schloss. Wir standen
     in einem riesigen quadratischen Rittersaal, den ein massiver, wie ein Zopf
     gemeißelter Steinbogen in zwei Hälften teilte. Unter der Decke
     lief ein mit Bögen gesäumter Balkon um die Halle. Durch die
     oberen Fenster ergoss sich goldenes Licht in dickflüssigen Strahlen
     zu uns herab. Unten waren die Fenster schmal und die Mauern dick, sodass
     die Wände dazwischen noch im Dunkeln lagen, doch im Dämmerlicht
     sah ich Wandteppiche, die von blassen Einhörnern und Burgfräulein
     mit spitzen Hüten bevölkert waren.
    »Das ist nicht
     Helsingor«, stellte ich fest.
    »Nein.«
    Auf dem polierten Parkett
     waren Lavendel- und Rosmarinzweige verstreut, die bei jedem Schritt ihren
     Duft verströmten.
    Athenaide war stehen
     geblieben und blickte zur Wand rechts neben mir hinauf. Ich folgte ihrem
     Blick. Über einem Kamin, der groß genug war, um einen
     Mammutbaum darin zu verfeuern, hing ein Gemälde, das grün und
     gold im Zwielicht schimmerte. Eine Frau in einem Brokatkleid trieb mit
     bleichem Gesicht in einem von einer hohen Böschung gesäumten
     Bach. Im Wasser schwammen rote und lila Blüten. Die sterbende Ophelia
     von Sir John Everett Millais.
    Es war ein Ölgemälde,
     kein Druck, und es war herrlich, bis hin zu dem aufwendig geschnitzten
     Goldrahmen. So herrlich, dass ich mich einen Moment fragte, ob Athenaide
     das Original gekauft haben könnte.
    »Ich habe es

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