Die Shakespeare-Morde
Schieferdach wurde von drei Giebeln unterbrochen, und zu beiden
Seiten erhoben sich Türme mit spitzen, grünstichigen Kupferdächern.
In der Mitte entdeckte ich das, was ich von der anderen Seite für
einen Kirchturm gehalten hatte, eine verschnörkelte Kaskade von Säulen
und Kuppeln, gekrönt von einer spiralförmigen Turmspitze.
Darunter führte ein Torbogen in den Innenhof, flankiert von einem
Neptun, der einen Dreizack schwang, und einem Hermes in geflügelten
Sandalen.
Ich schloss die Augen.
»Ich kenne das Schloss.«
»Das dachte ich mir«,
sagte Athenaide.
»Sie waren schon mal
hier?«, fragte Ben.
»Nein«,
antwortete Athenaide statt meiner. »Aber ich verwette ein Königreich,
dass sie seinen Namensvetter besucht hat.«
Ich öffnete die Augen
wieder. »Helsingor.«
Sie lächelte. »Oder
genauer Schloss Kronborg, in Helsingor, am Öresund.« Athenaide
formte die skandinavischen Vokale wie eine Einheimische.
»Dänemark«,
erklärte ich Ben.
»Hamlets Heim«,
sagte Athenaide. Dann ging sie in den Innenhof voraus, und wir folgten
ihr.
»Sie haben sich mitten
in der Wüste von New Mexico eine Kopie von Helsingor bauen lassen?«,
fragte ich fassungslos.
Vor einer reich verzierten Tür
blieb sie stehen und lachte. »Nicht wirklich eine Kopie. Eher eine
kleine Hommage.«
»Warum?«
»Das Original wollten
die Dänen nicht verkaufen.« Sie winkte uns herein. »Nach
Ihnen.«
Wieder griff Ben nach meinem
Arm, doch ich machte mich los und folgte Athenaide.
Wir standen in einer weitläufigen
Galerie mit Schachbrettboden aus weißem und schwarzem Marmor. Auf
einer Seite hingen große Gemälde an der weißen Wand, die
aussahen wie die schwülstigsten Schinken der alten Meister. Auf der
anderen Seite waren zwischen hohen Säulen riesige Fensterflächen
mit Rautenscheiben eingelassen.
»Geradeaus, und dann
rechts«, dirigierte Athenaide. »Halt«, sagte sie dann.
Sie stand mit verschränkten Armen vor einer geschlossenen Flügeltür.
»Eine Frage haben Sie beantwortet, zwei sind noch offen. Warum möchten
Sie die persönlichen Gegenstände von Jeremy Granville, Bürger
von Tombstone, sehen - so dringend, dass Sie tausend Kilometer durch die
Nacht fahren, in einem Tempo, das Ihnen kein Polizist durchgehen lassen würde?«
Was sollte ich sagen? Weil
Ros sich dafür interessiert hatte und jetzt tot war? Ich räusperte
mich. »Ich bin an ›Hamlet‹ interessiert, und Granville
hat einmal wegen einer Wette den Hamlet gespielt.«
»Eine akzeptable, wenn
auch unaufrichtige Antwort. Wahrscheinlich genau der Grund, aus dem ich
die Sachen gekauft habe. Auch ich bin fasziniert von ›Hamlet‹.
Aber natürlich ist das nicht der Grund, aus dem wir beide uns im
Moment für Granville interessieren. Trotzdem lasse ich die Antwort
gelten.« Sie drehte sich um und drückte mit großer Geste
die Flügeltür auf. »Willkommen in der Großen Halle.«
›Groß‹
war eine schamlose Untertreibung, selbst für ein Schloss. Wir standen
in einem riesigen quadratischen Rittersaal, den ein massiver, wie ein Zopf
gemeißelter Steinbogen in zwei Hälften teilte. Unter der Decke
lief ein mit Bögen gesäumter Balkon um die Halle. Durch die
oberen Fenster ergoss sich goldenes Licht in dickflüssigen Strahlen
zu uns herab. Unten waren die Fenster schmal und die Mauern dick, sodass
die Wände dazwischen noch im Dunkeln lagen, doch im Dämmerlicht
sah ich Wandteppiche, die von blassen Einhörnern und Burgfräulein
mit spitzen Hüten bevölkert waren.
»Das ist nicht
Helsingor«, stellte ich fest.
»Nein.«
Auf dem polierten Parkett
waren Lavendel- und Rosmarinzweige verstreut, die bei jedem Schritt ihren
Duft verströmten.
Athenaide war stehen
geblieben und blickte zur Wand rechts neben mir hinauf. Ich folgte ihrem
Blick. Über einem Kamin, der groß genug war, um einen
Mammutbaum darin zu verfeuern, hing ein Gemälde, das grün und
gold im Zwielicht schimmerte. Eine Frau in einem Brokatkleid trieb mit
bleichem Gesicht in einem von einer hohen Böschung gesäumten
Bach. Im Wasser schwammen rote und lila Blüten. Die sterbende Ophelia
von Sir John Everett Millais.
Es war ein Ölgemälde,
kein Druck, und es war herrlich, bis hin zu dem aufwendig geschnitzten
Goldrahmen. So herrlich, dass ich mich einen Moment fragte, ob Athenaide
das Original gekauft haben könnte.
»Ich habe es
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