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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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schätze, dass sie mir eher früher als später einen
     Besuch abstatten werden. Das sollten wir nicht vergessen.« Sie
     wandte sich an Graciela. »Das wäre alles, vielen Dank«,
     sagte sie mit einem kurzen Nicken.
    Graciela machte ein mürrisches
     Gesicht, doch sie legte Bens Waffe auf das Tablett, nahm es auf und ging. 
    »Sie bekommen Ihre
     Waffe wieder, wenn Sie mein Haus verlassen, Mr Pearl«, erklärte
     Athenaide. Dann sprach sie zu mir. »Granvilles Papiere haben etwas
     mit der Sache zu tun. Rosalind Howard wollte sie, und jetzt ist sie tot.
     Dann haben Sie sich auf die Suche danach gemacht, und Maxine musste
     sterben. Warum?«
    Ich hatte nichts zu bieten
     als die Wahrheit. »Haben Sie den Namen Cardenio schon einmal gehört?«
    »Das verschollene Stück?«
     Sie runzelte die Stirn.
    »Bitte, Athenaide.
     Lassen Sie uns Granvilles Papiere sehen.«
    »›Cardenio‹.«
     Sie ließ das Wort auf ihrer Zunge zergehen, als wollte sie seinen
     Geschmack kosten. Dann ging sie zu einem kleinen Kasten an der Wand und
     tippte einen Code ein. Ein biometrischer Scanner klappte aus der Wand, und
     sie hielt den Finger hinein. Einen Moment später ratterte ein Schloss,
     und mit einem leisen Zischen öffnete sich eine Tresortür. Sie
     nahm eine blaue Mappe heraus, die sie zu einem großen quadratischen
     Tisch in der Saalmitte brachte. »Da Sie von seiner Hamlet-Darbietung
     wissen, nehme ich an, Sie haben das Material gelesen, das das Archiv zu
     Granville hat?«
    Ich nickte.
    »Als er von Tombstone
     wegritt, ließ er nur eine Garnitur Kleider und ein paar Bücher
     zurück. Keine Papiere.«
    »Keine Papiere?«
    »Keine, von denen er
     wusste. Doch nachdem er fort war, kam ein Brief für ihn an, den die
     Madame, bei der er wohnte, aufbewahrte. Blondmarie nannten sie das Fräulein,
     oder auch Golddollar - es war die Urgroßmutter von Mrs Jiménez,
     die mit dem Beruf ihrer Ahnin verständlicherweise nicht hausieren
     geht. Blondmarie hat den Brief nie geöffnet.« Athenaide zog
     einen alten Briefumschlag aus der Mappe, der mit blasser lila Tinte
     beschrieben war. Die Briefmarke war englisch, der Poststempel aus London.
     Er war am oberen Ende geöffnet.
    »Aber er ist offen«,
     sagte ich.
    »Seit letzter Woche«,
     sagte sie. »Eine gemeinsame Bekannte hat das Siegel gebrochen.«
     Sie zog ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über.
    Ich sah sie an. »Ros
     hat den Brief geöffnet?«
    »Falls Sie mit dieser
     unschönen Abkürzung Professor Rosalind Howard meinen, ja.«
     Sie zog ein cremefarbenes Blatt aus dem Umschlag und faltete es vorsichtig
     auseinander. »Professor Howard versprach ›los Jiménez‹
     eine Menge Geld für den Brief, aber dann ging sie wieder. Sie sagte,
     Harvard würde dafür aufkommen. Was sich Mr und Mrs Jiménez
     schlecht vorstellen konnten. Als ich drei Tage später auftauchte, mit
     dem Scheckbuch in der Hand, fanden sie, sie hätten lange genug
     gewartet.«
    Athenaide trat einen Schritt
     zurück und winkte mich an den Tisch.
    Die Handschrift war zart und
     verschnörkelt. »Die Schrift einer Frau«, stellte ich
     fest. Auch Ben war näher herangetreten. Athenaide nickte.
    Ich begann zu lesen. 
    20. Mai 1881 Savoy, London
    Mein liebster Jem,
     
    Ich hielt inne. »Jem«
     war die alte englische Abkürzung für Jeremy. Die einzigen Männer,
     die eine viktorianische Lady mit einem Kosenamen anreden würde - und
     mit einem so innigen Attribut -, waren Brüder, Söhne und Ehemänner.
     
    Nun, da der Tag näherrückt,
     da wir endlich wieder vereint sein werden, ergreift mich ein Zittern wie
     die kraftvolle Schlingpflanze aus dem tiefsten Congo …
     
    Die wild wuchernde
     Bildhaftigkeit war typisch für die unterdrückte Sinnlichkeit der
     viktorianischen Ära. Jem war also kein Bruder oder Sohn. Ein Ehemann?
     
    Ich bin — wie von
     Dir verlangt - nach London gekommen, um herauszufinden, welche Bande
     zwischen Somerset und der Familie Howard besteht. Wie ich, wirst Du das
     Ergebnis überaus fascinirend finden -wenn auch leider überaus
     schändlich. Doch ich will meine Frauenfeder so tapfer benutzen wie
     ein Mann, um offen darüber zu schreiben - Dir Auskunft zu geben und
     bitte Dich, meinen Brief in diesem Sinne zu lesen.          
    Zunächst dachte ich,
     »Somerset« bezöge sich auf das County, was mich jedoch in
     hoffnungsloses Gelände führte, etwa so unwirthlich wie
     Arctisches Eis. Dann aber brachte mich eine beiläufige Bemerkung des
    

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