Die siebte Gemeinde (German Edition)
altertümlichen Dokument herumzufuchteln.«
»Worauf warten wir noch?«, sagte Elias ungeduldig und rief mit einem Fingerzeig die Bedienung herbei.
Nach einem großzügigen Trinkgeld verließen sie das Café im Laufschritt und rannten zum Antiquitätenladen zurück. Zurück zu dem Ort, den sie erst vor Minuten wegen der bedrückenden Atmosphäre verlassen hatten. Zurück zu dem Ort, der vor Stunden Schauplatz eines brutalen Verbrechens gewesen war. Dem Ort, wo Elias seinen Vater verloren und Emma die ersten Todesängste ihres Lebens ausgestanden hatte. Doch der Nervenkitzel, in wenigen Augenblicken ein wertvolles Schriftstück untersuchen zu können, ließ beide das beklemmende Gefühl vergessen.
Emma schaute sich, während sie liefen, immer wieder um, da sie, wie schon den ganzen Tag, das Gefühl hatte, jemand würde sie verfolgen. Schon im Café war sie der Meinung, eine Person mit Wollmütze und Schal vor dem Gesicht, wäre mehrmals an den Panoramafenstern entlanggelaufen und hätte auffällig lange zu ihnen hineingeschaut. Doch da bei dieser Witterung jeder Zweite in diesem Outfit durch die Stadt hetzte, war sie sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt dieselbe Person war.
Im Antiquitätenladen liefen sie geradewegs durch in das Büro hinter dem Wollvorhang. Emma stellte ihre Tasche auf den Tisch. Elias räumte sämtliche Unterlagen darauf beiseite, und Emma zog den knitterigen Bogen langsam aus ihrer Tasche. Sachte breitete sie ihn vor sich auf dem Tisch aus. Die Köpfe dicht aneinander gedrängt, stierten sie auf das Fundstück.
Das Dokument war etwas größer als ein normales Blatt Papier und außerordentlich gut erhalten. Von den Zeichen der Zeit bräunlich gefärbt und an den Rändern geringfügig ausgefranst, schien es eine vollständige Seite zu sein. Es war von oben bis unten durchgängig beschrieben. Am oberen linken Rand erkannte man ein winziges ausgerissenes Loch.
»Wow!« Elias konnte seine Begeisterung nicht zurückhalten. Geschmeidig glitt er mit seinen Fingern über das Schriftstück.
»Das kann ich nicht lesen«, sagte Emma enttäuscht. »Die Zeichen sehen aber genauso aus wie auf dem Stückchen, das heute Morgen aus dem Umschlag gefallen ist.«
»Das müsste Griechisch sein«, klärte Elias sie auf. »Etwas schlampig geschrieben, würde ich sagen. Die Zeilen verlaufen sehr ungerade und unorthodox.«
»Sagen Sie bloß, Sie können das lesen?« Emma warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Na ja, nicht direkt. Zumindest nicht fließend.« Er schaute von dem Papier auf. »Wie sie wissen, habe ich Geschichte studiert. Damals hatte ich mich mit Byzantinistik beschäftigt, beschäftigen müssen. Ich habe zwar nicht das Graecum, aber einiges ist hängengeblieben.« Er blickte zurück auf das Dokument. »Sehen Sie beispielsweise dies hier.« Er deutete auf ein Wort, das am Anfang einer Zeile stand: Κωνσταντινούπολη.
»Das bedeutet Konstantinopel. Da bin ich mir ziemlich sicher. Das hab ich während des Studiums sehr häufig gelesen.«
»Konstantinopel?«, wiederholte Emma fragend.
»Ja, das war der mittelalterliche Name der Stadt Istanbul. Erst als sie von den Osmanen erobert wurde, hat man sie unbenannt.«
»Aha.« Emma nickte und lächelte Elias entschuldigend an. »In Geschichte war ich immer eine Pfeife. Nach Mathe das Hassfach aller Mädchen in meiner Klasse. Dafür haben sich bei uns nur die Jungs interessiert.« Sie tippte auf die unmittelbar nach ›Konstantinopel‹ folgenden Worte: ,ασδ´ Απρίλιος. »Und was steht hier dahinter?«
»Das vordere ist eine Zahl, nehme ich an. Die wurden mit einem solchem Apostroph abgeschlossen. Das Zahlensystem der Griechen erfolgte, ähnlich wie bei den Römern, additiv. Das bedeutet, es gab für bestimmte Zahlen ein Zeichen, die kombiniert sämtliche Zahlvarianten ergaben. Wie zum Beispiel bei den Römern das X für die Zehn und das V für die Fünf stand, ergaben sie bei XV die Zahl fünfzehn.« Elias kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach. »Wenn ich nur alles noch beisammen bekäme, … das Erste ist einfach. Das ist Alpha. Der erste Buchstabe im Alphabet. Er stand für die Eins. Das Zeichen vor dem Alpha, nennen wir es ein Komma, bedeutet tausend. Da unmittelbar danach die Eins folgt, bedeutet es demnach eintausend. Der hintere Buchstabe der Dreien steht für die Vier. Doch was ist das für ein Zeichen in der Mitte?« Elias kratzte sich am Kopf. »Ist mir nicht geläufig. Siebzig oder zweihundert
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