Die Signatur des Mörders - Roman
gesagt?«
»Sie seien zusammen zur U-Bahn gegangen, hätten sich verabschiedet, und anschließend sei Olivier die Rolltreppe hinuntergefahren.«
»Wie hat sich Olivier verhalten?«
»Nervös. Die ganze Zeit hätte er auf die Uhr gesehen. Offenbar war er verabredet.«
»Mit wem wollte er sich treffen?«, fragte Myriam, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Das wusste Wolff nicht.«
Eine Pause entstand. Sie offenbarte ihre Hilflosigkeit. Sie alle waren blind.
»Ist Olivier der Täter oder das Opfer?«, fragte Myriam.
»Wir haben die Einliegerwohnung durchsucht«, erwiderte Ron, »aber nichts gefunden, was in irgendeiner Form darauf hinweist, es könnte sich bei ihm um den Mann handeln, der sich für den Richter hält.«
»Aber er hatte Zugang zu dem PC sowie dem Laptop von Hus«, stellte Myriam fest.
»Die Manuskriptseiten wurden zwar über Milan Hus’ Adresse an das Antiquariat in Prag geschickt«, erklärte Ron. »Die Texte befinden sich jedoch auf keiner Festplatte. Weder bei Hus noch bei Olivier. Jeder, der Hus’ E-Mail-Adresse kannte, konnte Nachrichten über seinen PC verschicken. Hus hatte sein Passwort abgespeichert. Außerdem ist Olivier erst nach Justin Brandenburgs Auszug zu Hus gezogen, also nach Helena Baarovas Ermordung.«
Myriam versuchte sich den Richter vorzustellen. Er wusste genau, was er tat. Er war intelligent, gebildet, kannte sich mit Kafka aus. Beide Taten wiesen zudem auf jemanden hin, der peinlich genau plante, jemanden mit einem Sinn für grausame Inszenierungen. Und er wusste genau über Milan Hus’ Theorien Bescheid. »Jemand hatte es von Anfang an auf Milan Hus abgesehen«, sagte sie in einer plötzlichen Erkenntnis. »Er ist das eigentliche Opfer. Der Richter hat ihn zum Tode verurteilt.«
Ron runzelte verständnislos die Stirn.
Henri wirkte erschrocken. Etwas in seinen Augen flackerte auf, für einen Moment glaubte sie, Einverständnis zu erkennen.
Wagner dagegen lachte albern.
»Du meinst«, fragte Ron, »Helena Baarova und Justin Brandenburg mussten sterben, damit sich jemand an Milan Hus rächen konnte?«
»Ja, vielleicht …«, sie stockte kurz, da es selbst in ihren Ohren absurd klang, »… hat der Täter ihn von Anfang an in den Tod treiben wollen.«
Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Jemand hatte es eilig. Für einen Moment fürchtete Myriam, es könnte sich um Hillmer handeln. Bis ihr einfiel, welcher Tag es war. Mit Sicherheit würde dieser sich nicht am Samstag ins Gericht begeben.
»Ganz abgesehen davon, dass dies absurd klingt, wer sollte dazu einen Grund haben?«, fragte Ron und fügte nach einer Weile hinzu: »Und die Macht?«
»Vielleicht jemand aus seiner Vergangenheit, von dem wir nichts ahnen.« Henri lehnte sich im Stuhl zurück. »Jemand, von dem wir nicht wissen, dass er existiert.«
»Aber Selbstmord …«, wandte Ron ein. »Man bringt sich nicht so einfach um, außer man ist zutiefst deprimiert, sieht keinen Ausweg mehr. Milan Hus war kein verzweifelter Mensch. He, ihr habt ihn selbst erlebt. Er strotzte nur so vor Selbstbewusstsein und Arroganz.«
»Wissen wir das wirklich? Niemand von uns kann in einen anderen hineinblicken. Keiner blickt hinter die Fassade. Wir alle sind blind, wenn es um die Qualen geht, die andere durchleiden.«
Etwas von der Verzweiflung lag auch über diesem Raum, Myriams Büro.
Das Schweigen der anderen zeigte Myriam, dass sie über den Gedanken nachgrübelten, jemand könnte Milan Hus in den Tod getrieben haben. Nur Wagner begann ungeduldig mit den Fingern in seinem Mund herumzufahren, als suche er nach dem verloren gegangenen Kaugummi.
»Wir müssen uns mit dem dritten Manuskript beschäftigen«, unterbrach sie die Stille.
Ron streckte die Beine aus. »Diese Germanisten legen sich mächtig ins Zeug. Wir sollten sie für die Spurenanalyse anheuern.« Er kramte in seinen Unterlagen und zog schließlich eine Klarsichtfolie hervor. »Einer der Gutachter, die wir beauftragt haben, hat sich eingehend mit dem Ort beschäftigt, von dem im Manuskript die Rede ist.« Papier raschelte. Er begann zu lesen: »Wir begegnen dem ahnungslosen Helden des Textes an einem völlig entleerten Schauplatz. Er scheint unterhalb der Erde zu liegen, doch ist nicht die Rede von einem Keller, sondern eher von einem schalldichten, lichtlosen Verlies. Die Geräusche des Lebens, des Alltags der Stadt sind lediglich dumpf zu hören. Der Held der Geschichte weiß, dass außerhalb seiner Zelle das Leben weitergeht, er selbst jedoch
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