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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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keinen Anteil mehr daran hat. Nicht Hunger und Durst richten ihn zugrunde, sondern die Dunkelheit und die Isolation. Die Sinne schwinden. Die Welt des Helden ist undurchschaubar, seine Aussichtslosigkeit wird in für Kafka typischer Manier geschildert. Eine Aussichtslosigkeit, die unweigerlich in den Tod führen muss. Auch wenn es keine Vorlage unter Kafkas Erzählungen für dieses Szenarium gibt, so ist der Text stilistisch und inhaltlich an Kafka angelehnt. Der Verfasser ist zudem fähig, Kafkas Handschrift perfekt zu imitieren.«
    Wagner lachte laut auf. »Gequirlte Scheiße.«
    Niemand achtete auf ihn.
    »Fantasie oder Wirklichkeit?«, fragte Myriam.
    »Ehrlich gesagt«, Ron zuckte resigniert die Schultern, »glaube ich inzwischen alles.«
    »Wirklichkeit«, erwiderte Henri bestimmt. »Bei den ersten beiden Manuskripten handelte es sich schließlich ebenfalls um detaillierte Schilderungen eines Mordszenariums.«
    »Wir müssen also den Text ernst nehmen«, nickte Myriam. »Aber wenn wir davon ausgehen, dass Olivier das nächste Opfer ist, wo sollen wir dann suchen?«
    »Irgendwo unter uns«, murmelte Henri. »Und er kann so gut wie nichts hören und rein gar nichts sehen.«
    Erneut schwiegen sie. Jeder versuchte sich dieses Verlies vorzustellen, in dem vielleicht Paul Olivier, vielleicht ein anderer dazu verurteilt war, auf seinen eigenen Tod zu warten. Die Stille wurde von Wagner durchbrochen, der sich nervös erhob, um das Fenster zu öffnen.
    Es erschien Myriam absurd, dass die Sonne schien und lebhaftes Vogelgezwitscher erklang.
    »Ron, was wissen wir über Olivier?«, fragte Myriam.
    »Wagner?«
    Wagner kam zu seinem Platz zurück und zog einen Ordner aus seiner Tasche. Es dauerte einen Moment, bis er seine Unterlagen gefunden hatte. »Er wurde in Genf geboren. Sein Vater ist Professor für Mathematik. Er selbst besitzt den Magister in vergleichender Literaturwissenschaft. Schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit zum Thema ›Psychopathische Züge in Kafkas Werk‹.« Wagner blickte kurz auf und sagte grinsend: »Oh, das klingt aber verdächtig.«
    »Machen Sie weiter«, forderte Henri ihn ungeduldig auf.
    »Er ist seit zwei Monaten Assistent von Hus, und alle Studenten, die wir befragt haben, haben nach langem Zögern erzählt, dass Hus seinen Assistenten...«, Wagner stockte kurz, »in den Hintern fickte.«
    Niemand reagierte. Irgendwann hatten Henri und Myriam vereinbart, nicht auf diese Art über die Fälle zu sprechen. Da die Grausamkeit und die Gewalt, die ihren Alltag begleiteten, schlimm genug waren, mussten sie sich nicht noch auf dieses Niveau herablassen. Nicht, dass sie jemals ausdrücklich darüber gesprochen hatten, nein, es war eher ein stillschweigendes Einverständnis gewesen.
    Wagner würde dies nie begreifen. Aber darum musste Myriam sich später kümmern. »Gab es Probleme, weil Hus Beziehungen zu seinen Studenten hatte?«
    Ron schüttelte den Kopf. »Nur die üblichen Gerüchte. Er galt eben als Exot, der nach seinen eigenen Gesetzen handelte, doch sein wissenschaftlicher Ruf war ausgezeichnet.«
    »Weiter!«
    Wagner las wieder vom Papier ab. »Olivier gilt als still und zurückhaltend. Laut Hus’ Sekretärin der perfekte Assistent. Diensteifrig und anpassungsfähig.«
    »Er war Hus ergeben«, sagte Henri. »Wie Justin Brandenburg.«
    Myriam hörte Henri reden und fühlte sich plötzlich von den anderen wie durch eine Glasscheibe getrennt. Das Glas war milchig. Es ließ die Personen dahinter verschwimmen, auch deren Stimmen nahm sie nur noch gedämpft wahr. Sie konnte einfach nicht mehr klar denken. Ihre Gedanken, so kam es ihr plötzlich vor, waren in Gefahr, sich aufzulösen. Nur noch einzelne Worte, die in ihrem Kopf herumflogen.
    »… wieder von vorne anfangen«, hörte sie Ron sagen. »Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?«
    »Was?«
    »Wenn wir nichts wissen, müssen wir wieder von vorne anfangen.«
    »Das heißt?«
    »Spuren, Gutachten der Rechtsmedizin, Zeugenvernehmung. Die gute alte Kriminalistik. Wir nehmen noch einmal alle Leute aus Milan Hus’ Umfeld unter die Lupe.«
    Myriam beruhigte sich. Das Gefühl, dass sie hinter einer Glasscheibe stand, verflüchtigte sich.
    »Du hast recht. Wir müssen etwas unternehmen. Justin Brandenburg. Gehen wir noch einmal die Einzelheiten durch. Was ist mit den Nachbarn? Und wie kann jemand unbemerkt einen Bauzaun in den siebten Stock bringen?«
    »Die nahegelegene Baustelle«, erwiderte Ron, »ist am Abend ein beliebter Treffpunkt für

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