Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Aufgabe. Also schickten mich meine Eltern nach ein paar Monaten in den Hekdesch, das Judenspital. Hier kümmerte sich die Frau des Rabbi zusammen mit einer Helferin um die Armen, Kranken und Alten in der Gemeinde. Der Hekdesch war ein unscheinbares steinernes Gebäude mit schiefem Dach; im Erdgeschoss befanden sich die Küche und ein kleiner Saal mit hohen Spitzbogenfenstern, im Obergeschoss etliche winzige Kämmerlein, in denen die Leute wohnten. Wer in unserer Gemeinde nicht mehr für sich selber sorgen konnte, wurde hier aufgenommen, aber auch so mancher durchreisende Händler, der krank geworden war und Hilfe brauchte. Bezahlt wurde das alles aus der gemeinen Kasse, in die jeder von der Judenschaft nach seinem Vermögen einzahlte, die Reichen mehr, die Armen weniger. Außerdem sammelte man hier die Gelder, die von denjenigen »gespendet« wurden, die ein Amt übernahmen. Es wurde ja jedes Jahr ausgehandelt, wer in der Synagoge wann aus der Thora lesen durfte, wer sie herausholen und wieder zurückbringen durfte und Ähnliches. Das kostete jedes Mal einen gewissen Betrag. Und auch wenn der Rabbi und die Gemeindevorsteher, was auch einmal vorkam, zu Gericht saßen, war oft eine Geldstrafe fällig, die in die Gemeindekasse floss. So war es möglich, das Spital zu unterhalten, und niemand von uns musste Angst haben, bei Krankheit oder im Alter allein auf sich gestellt zu sein.
Meine Hilfe war im Hekdesch hoch willkommen, denn zu dieser Zeit waren alle Plätze belegt. Fünf alte Leute lebten hier, die nicht mehr alleine zurechtkamen und jeden Tag gewaschen und gefüttert werden mussten, dazu ein Waisenkind, die kleine Rifka, ein ganz bedauernswertes Ding, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Rifka war für ihr Alter zu dünn und zu schwach, und außerdem war sie verwachsen. Die Frau des Rabbi meinte, sie würde wohl nicht alt werden, was mich recht traurig machte. Außer ihr und den Alten pflegten wir noch hie und da Kranke, die einfach niemanden hatten, der für sie sorgte.
Im Hekdesch hatte ich endlich eine Aufgabe gefunden. Gleich zu Anfang überließ man mir die Betreuung der kleinen Rifka. Ich half ihr bei den täglichen Morgenwaschungen, brachte ihr bei, dass sie den Lappen gut ins Wasser tauchen musste und auch die Ohren nicht vergessen durfte. »Man steckt sich zum Saubermachen den Goldfinger ins Ohr«, erzählte ich ihr, und sie war klug und vergaß nie etwas. Einmal nahm ich Jochebed mit, und die beiden wurden sofort Freundinnen; von da an verbrachte Jochi die Tage lieber im Spital als daheim. »Jochi auch«, sagte sie schon in aller Frühe zu mir und patschte bittend ihre Hände zusammen, wenn ich nach dem morgendlichen Schacharit losging. Meistens gab ich dann nach und nahm sie mit, auch wenn sie mich bei der Arbeit aufhielt. Hauptsache, sie war glücklich.
Was mir im Hekdesch am besten gefiel, war die Pflege der Kranken. Damals hatten wir keinen Arzt in der jüdischen Gemeinde, aber da war Rechla, ein grobschlächtiges Weib mit Hasenzähnen und riesigen Füßen, die sich in der Medizin auskannte und auch als Wehfrau zu den Gebärenden kam. Sie schaute fast täglich herein und half, wo es ging, mit Kräuterabsuden, Umschlägen und Salben, was mich ganz in ihren Bann schlug. Erst stand ich nur daneben und sah neugierig zu, wenn sie die Kranken besuchte, aber irgendwann ging ich ihr zur Hand, machte Verbände, klebte Pflaster und säuberte Wunden. Bald stellte sie mir kleine Aufgaben: Sie ließ mir die Zutaten für Heiltränke da, die ich aufbrühen musste, zeigte mir, wie ich auch ohne sie einen warmen Wickel anlegte oder einen Verband wechselte. Ich lernte, dass Gundelreb bei Brustschmerzen half, Hirschzunge bei Bauchweh und schwarzer Rettich bei Husten. Raute, Lilie und Pfefferkraut bekamen diejenigen, die müde und traurig waren, Dinkel war gut gegen schlechte Verdauung, Brennessel half gegen ein schwindendes Gedächtnis. Bald machte ich ein Spiel daraus, vorherzusagen, welche Medizin Rechla anwenden würde, und meine Vorhersagen wurden mit der Zeit immer sicherer. Zu Hause sahen meine Eltern mich kaum noch, erst zur Abendmahlzeit kam ich heim, erschöpft, aber zufrieden. Dies alles lenkte mich von der Sehnsucht nach Salo ab, von dem Gedanken, dass er weit, weit fort war und erst nach langer Zeit wiederkommen würde.
Sein erster Brief erreichte mich beim Laubhüttenfest, am neunzehnten des Monats Tischri. Wir saßen gerade in der Sukka, einem kleinen Raum unterm Giebel, über dem sich das Dach
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