Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Hause kam, ich spann, nähte und stickte. Ich trennte Milchiges und Fleischiges und kämmte die neununddreißig Fransen am Gebetsschal. Zu meinen Pflichten gehörte es auch, jeden Tag das Schema Jisrael aufzusagen, zu singen und Gebete zu sprechen. Und ich hütete Jochebed, die man nicht gut allein lassen konnte. Am schönsten war, dass ich zusammen mit meiner Mutter das Brautgewand nähte, aus feinstem rohweißem Stoff, wie ihn nur Bräute tragen durften. Eigentlich war es noch zu früh dafür, ich würde ja vielleicht noch wachsen und größere Brüste bekommen, aber schließlich gab Mutter nach. Sie schnitt den Stoff so großzügig zu, dass noch Platz für eine größere, üppigere Sara blieb, und dann stickten wir monatelang mit Hingabe Muster, Blumen, Blätter, Ranken, Tiere, Sonnen, Sterne darauf – alle Ornamente hatten eine Bedeutung und mussten genauestens gefertigt sein. In jeden Stich stickte ich die Hoffnung auf Salos baldige Rückkehr mit ein, und in so manchen auch eine Träne der Sehnsucht.
Irgendwann aber war mein Hochzeitsgewand fertig, und danach wurde die Zeit wieder eintönig. Die Langeweile umgab mich wie ein zähes Gallert. Dann kam ich auf den Gedanken, mir von Rabbi Meir Bücher auszuleihen. Wir selber besaßen ja nur eine einfache Haggada, aus der am Pessachfest im Kreis der Familie vorgelesen wurde, und die kannte ich schon in- und auswendig. Der Rabbi hingegen hatte wunderschön illustrierte Handschriften mit Texten aus der Thora und dem Talmud, verschiedene Machsorim, die Gebete enthielten, aber auch Bücher, die keine religiösen Inhalte hatten, sondern von anderen Dingen handelten, meist von der Geschichte unseres Volkes, das über die ganze Welt verstreut ist. Ich las begierig, schloss mich manchmal stundenlang in meiner Kammer ein, um mit einem Buch auf dem Bett zu liegen, bis es zu dunkel zum Lesen wurde. Wenn Jochi dabei war, las ich ihr eben vor, auch wenn das meiste Hebräisch war, was sie ja gar nicht verstand. Trotzdem hing sie wie gebannt an meinen Lippen, einfach um dem Rhythmus der Worte zu lauschen.
Ich erinnere mich noch genau an ein Buch, in dem es um das Zusammenleben zwischen Christen und Juden ging. Ich selber hatte noch nie wirklich böse Erfahrungen gemacht, kannte höchstens misstrauische Blicke oder hingezischte Bemerkungen. Schlimme Geschichten, ja, die hatte ich gehört, aber vor uns Kindern wurde eigentlich nie offen darüber gesprochen. Es hieß immer nur: »Haltet euch von ›denen‹ fern!« Und in Köln herrschte ja Frieden zwischen Juden und Christen, die einen ließen die anderen in Ruhe, außer, wenn es um Geschäfte ging. Wir Juden waren ja die einzigen, von denen man sich Geld leihen konnte, deshalb brauchte man uns. Jetzt las ich voller Entsetzen über die furchtbaren Metzeleien, die vor gerade einmal ein paar Jahrzehnten überall im Reich stattgefunden hatten. Tausende hatte man ermordet, damals, als die Christen unser Volk verantwortlich gemacht hatten für den Schwarzen Tod. Wie konnte eine solche Lüge nur sein? Ich war richtig wütend, und vor lauter Wut redete ich auf meine Schwester ein: »Brunnen sollen wir vergiftet haben, stell dir vor! Warum beim Barte des Ewigen sollten wir so etwas tun? Wasser ist uns heilig, und Juden sind doch genauso an der Pest gestorben wie die Christen! Trotzdem haben sie so viele umgebracht! Da, hör nur zu, hier steht geschrieben: ›Die Christen haben ein Feuer in den Zelten Jakobs entzündet und Blutbäder in ihren Wohnplätzen angerichtet.‹ Und nach dem großen Judenschlachten haben die Mörder noch in der Asche der Scheiterhaufen nach Schätzen gewühlt! Ich glaube, das ist es, was sie wollten: Geld und Pfänder! Wenn die Juden, bei denen sie etwas geliehen hatten, tot waren, mussten sie schließlich nichts mehr zurückzahlen.«
Jochi ließ meine Ausbrüche meist gleichmütig über sich ergehen, sie freute sich einfach, dass ihr was erzählt wurde. Je wütender ich wurde, desto unterhaltsamer fand sie es. Und als ich versuchte, mit meinem Vater zu reden, wiegelte er ab. Er war ein Mensch, der nicht gern über unangenehme Dinge sprach. Darin war er manchmal wie Jochebed: Er glaubte, wenn er die Augen schloss und die Finger in die Ohren stopfte, wäre die Welt nicht mehr da. Ich hingegen sah hin, hörte zu und regte mich auf. Ach, mit Salo hätte ich alles besprechen können, er hätte immer eine Antwort gewusst!
Schließlich entschied mein Vater, so viel Lesen sei nicht gut für mich. Ich brauchte eine
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