Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
öffnen ließ. In die Öffnung hatte mein Vater ein loses Geflecht aus Zweigen gebaut, so dass wir fast wie unter dem freien Himmel waren. Das verlangte der Brauch: Die Sukka sollte an die Hütten erinnern, in denen das Volk Israel auf der Flucht aus Ägypten in der Wüste wohnte. Wenn das Wetter es zuließ, lebten wir eine Woche lang in unserer Laubhütte. Ich liebte das, es war herrlich, beim Einschlafen die Sterne funkeln zu sehen, neben mir den Feststrauß aus Myrte, Bachweide und einem getrockneten Palmzweig. In manchen Jahren, wenn es einem unserer Händler gelungen war, eine Etrog aus dem Land der Väter einzukaufen, lag die seltsame gelbe Frucht dabei; sie hieß zwar »Frucht des Baumes der Lieblichkeit«, schmeckte aber scheußlich bitter. Aber wir sollten sie ja auch nicht essen; denn sie verkörperte den Paradiesapfel – waren Rillen darin, dann nannten wir das den Adamsbiss, und die Etrog war besonders wertvoll.
Esther, die Frau von Salos Bruder Chajim, brachte Salos Schreiben, als wir gerade das Abendmahl begonnen hatten. Wir hatten, entgegen Chajims Wünschen, keine Freundschaft geschlossen – sie war mir einfach zu still, ich wusste nie, was ich mit ihr reden sollte. Immer sah sie traurig aus, und aus dem Haus ging sie auch selten. Damals glaubte ich, sie sei unglücklich, weil sie Heimweh nach ihrer Familie in Speyer hatte, aber es wurde mit der Zeit nicht besser. Später meinten alle, sie litte darunter, dass sie einfach nicht schwanger wurde. Einmal sah ich, wie ihr Ärmel verrutschte, und entdeckte einen riesigen blauen Fleck auf ihrem Oberarm. Aber weil sie so verschlossen war, traute ich mich nicht, sie darauf anzusprechen. Adonai, hätte ich es nur getan …
An diesem Abend war Esther für ihre Verhältnisse recht fröhlich. Flink stieg sie die Treppe zum Dachboden hinauf und rief: »Sara, Sara, gute Nachrichten, ein Brief aus Spanien!«
Ich sprang auf, riss ihr das Pergament aus der Hand, erbrach das Siegel und las gierig. Es war nur ein kurzes Schreiben, deutsch in hebräischen Buchstaben, in dem Salo mitteilte, dass er in der Stadt Sevilla im Land Al Andaluz lebte und Schüler in der Jeschiwa eines berühmten Rabbi geworden sei. Zusammen mit anderen Studenten lebte er im Haus einer Witwe, die sie mit allem Nötigen versorgte. Es ginge ihm gut, schrieb er, er lerne viel und habe Sehnsucht nach daheim. Die spanischen Sephardim seien doch in vielem anders als die Aschkenasim, auch wenn sie im selben Glauben lebten. Ihm brächten sie viel Freundlichkeit entgegen, aber er käme sich vor wie ein armer Schlucker, denn die Gemeinde in Sevilla sei unendlich reich. In der Synagoge habe man ihn schon zum Vertreter des Chasan, des Vorsängers, ernannt, wegen seiner angenehmen Stimme. Die Mauren, von denen viele in der Stadt Sevilla lebten, seien ein lebhaftes Volk und leichter im Umgang als die Christen, weil sie viel gebildeter seien. Dann ließ Salo alle schön grüßen und versprach, bald wieder zu schreiben.
Ich war enttäuscht, denn ich hatte liebevollere Worte erwartet. Vermisste er mich nicht so, wie ich ihn? Hätte er nicht ein paar Sätze nur an mich richten können? Aber natürlich wusste er, das sein Brief in der Familie laut vorgelesen werden würde, und hielt sich deshalb zurück. Also schluckte ich den kleinen Kloß in meinem Hals hinunter und freute mich einfach, dass es ihm gut ging. Ich nahm mir vor, ihm zu schreiben, aber mein Vater erklärte mir, dass ein Brief ihn vermutlich nicht erreichen würde. Die Thoraschüler zogen nämlich von Rabbi zu Rabbi, und Salo würde deshalb nicht länger als ein paar Monate an einem Ort bleiben. Ich wusste ja, dass er plante, nach Toledo und auch an andere Stätten jüdischer Gelehrsamkeit zu reisen. Also verwarf ich den Gedanken wieder. Wie vorher blieb mir nichts, als zu warten.
In den vier Jahren von Salos Abwesenheit kamen viele Briefe. Einige davon waren, zu meinem großen Glück, nur an mich gerichtet, und ich bewahrte sie wie einen Schatz unter meinem Kopfkissen. Einmal schickte er mir einen kleinen Ballen herrlicher Spitze aus Cordoba, einmal ein Tongefäß mit wunderhübschen Muscheln aus Jerez, und zuletzt ein kleines Buch mit Lehrsätzen für ein gutes Leben aus Gerona. Einen davon kann ich heute noch auswendig:
Alles hat seine Stunde.
Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.
Eine Zeit zum Gebären und eine zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen und eine zum Ernten,
eine Zeit zum Töten und eine zum Heilen,
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