Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Mutter, bestimmt. Und vielleicht heiratet mich ja ein anderer, irgendwann, einer, den ich auch will.«
Sie hielt mich ein Stück von sich weg. »Ach, Sara, glaubst du denn, irgendein Mann nimmt dich noch, wenn du den Sohn des mächtigsten Mannes in der Gemeinde zurückgewiesen hast? Wenn du die Mizwa gebrochen hast? Und noch dazu, wenn er weiß, dass er zusammen mit dir auch noch deine Schwester bekommt, die eine Närrin ist?«
Abwehrend hob ich die Hände, voll Verzweiflung. Ich sah, wie Tränen Mutters Augen füllten. »Ich kann im Leben nicht mehr ruhig sein, wenn ich nicht weiß, dass für Jochi gesorgt ist«, sagte sie. »Du hast sie selber gesehen, die armen Kreaturen, die in den Narrenkisten vor dem Stadttor wie die Tiere eingesperrt sind. Nie, niemals darf Jochi dort hinkommen. Es wäre ihr Tod, das weißt du. Sara, überleg doch. Chajim will dich heiraten, und er hat deinem Vater zugesagt, dass er sich auch um deine Schwester kümmern wird. Dein Vater und ich, wir wissen, dass du ihn nicht liebst und wir verstehen, dass du ihn nicht gern nehmen willst. Aber wir bitten dich: Heirate ihn. Tu’s für deine Schwester.«
Ich konnte nichts mehr sagen. Sie hatte recht. Es war für alle das Beste.
So wurde ich ein Jahr nach Salos Tod Chajims Frau.
Kloster Clonmacnoise, Winter 1410
Es war ein trostloser, nasskalter Winter, wie man ihn in Irland gewohnt war. Ein Regenschauer nach dem anderen trieb über die Insel, an manchen Tagen wurde es kaum hell. Donnernd toste die Brandung gegen die Felsklippen, dass die Gischt hoch aufspritzte, Meerwasser schoss dunkelschaumig tief in die kleinen Buchten, Steine, Algen und Muschelschalen mit sich reißend. Überall stürmte und wehte es; der Wind rüttelte mit kräftigen Fingern an den niedrigen Steinmäuerchen, die das Land kreuz und quer durchzogen. Die Menschen scharten sich in ihren Hütten um die bläulich flackernden Torffeuer. Nur für die notwendigsten Arbeiten ging man noch nach draußen.
Es war die Zeit der Geschichtenerzähler.
Auch im Kloster war einer der zahlreichen herumziehenden Unterhalter angekommen, ein verschrumpeltes altes Männlein namens Conn mit runden Mäuseaugen und lebhaften Händen, die beim Reden nie stillhielten. Er hatte mit seinem Shillelagh, dem knüppelähnlichen Schwarzdornstock des Wanderers, an die Pforte geklopft und war mit Freuden hereingeholt worden. Das Haus, das Dorf, das einen solchen Besucher abwies, gab es in Irland nicht. Nirgendwo liebte man die Geschichtenerzähler so wie auf der Insel. Sie konnten das Dachgebälk vor Gelächter erzittern lassen, Geister durch die Wände heraufbeschwören, Feen im zuckenden Feuer zum Tanzen bringen.
Ciaran hockte mit seiner Harfe neben dem Alten beim Feuer, auf der anderen Seite des Erzählers thronte auf einem Sessel die massige Gestalt von Father Tomás, dem neuen Abt. Der greise Father Padraig war im vergangenen Frühling friedlich eingeschlafen und lag nun draußen beim »Kreuz der Inschriften«, dem schönsten Hochkreuz von allen, so wie er es sich gewünscht hatte.
Der Wind pfiff um die Klostermauern und peitschte die Regentropfen fast waagrecht über den Shannon, als der alte Wanderer zu erzählen begann: »Es war einmal zu einer Zeit, und eine gute Zeit war es, aber es war nicht meine Zeit, noch eure Zeit, noch irgend jemandes Zeit … «
Alle Mönche hingen gebannt an den Lippen des Alten, als plötzlich von irgendwoher ein langgezogener, schriller Ton erklang. Die Männer horchten auf. Der Ton schwoll an, ebbte ab, wurde dann wieder lauter. Es war ein trauriges Heulen, schauerlich, aber zugleich auch süß und verlockend. Das war nicht der uralte Totenschrei der Bauern, wie man ihn kannte. Dies hier war viel eindringlicher, unheimlicher, es ging einem durch Mark und Bein. »Die bean sidhe«, murmelte einer der Mönche, und Ciaran fröstelte. Das war kein Gedanke, den ein Christenmensch hegen sollte, aber auch die Brüder von Clonmacnoise waren Kinder ihrer Zeit, und sie waren Kinder Irlands.
Denn die Banshee war eine alte Frau, die Todesbotin aus der Anderwelt. Ihre weiße Gestalt mit dem silbergrauen Haar, so erzählte man, zeigte sich auf dunklen Hügeln und an reißenden Ufern. Ein graues Gewand aus Spinnweb hing um ihren dürren Leib, der vor Kälte und Trauer zitterte. Sie hatte ein bleiches Totengesicht, die Augen blutunterlaufen vom endlosen Weinen. Und sie sang. Wer immer ihr schauerliches Lied hörte, wusste, dass jemand sterben würde. Es war ein schlimmes
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