Die silberne Maske
Vor der Revolte hätte Labinnah das Netz aus Treppen und Rampen genutzt, das die Zwischenräume der Ringstraße überzog. Man gelangte darauf im Handumdrehen zu jedem beliebigen Haus auf jeder beliebigen Ebene bis hinunter zum Kratergrund.
Doch diese Abkürzungen waren mittlerweile unpassierbar. Seit dem Ausbruch der Revolte war die Stadt in Abschnitte zerteilt, die entweder von Regimegegnern oder von Priesterschergen beherrscht wurden. Dar Anuin war zu einem Flickenteppich aus Hass und Feindschaft geworden. Barrikaden schirmten die Straßenzüge ab, alle Treppen und Rampen wurden bewacht.
So musste Labinnah den langen, gefährlichen Weg über die Ringstraße nehmen. Bei den ersten Schritten zog sie die Kapuze ihres Gewandes weit nach vorn, um möglichst wenig von ihrem Gesicht zu zeigen. Sie gehörte nicht zu den Bewohnern der obersten Ebene, und das sah man ihr an. Hier, wo der Kraterrand nur dreißig Meter entfernt war und hinter der letzten Biegung die Straße zum Himmelstor begann, lebten die Armen und die nicht elfischen Sklaven.
Winzige Häuser schmiegten sich wie Schutz suchend aneinander; es roch nach einfachen Speisen und mangelnder Hygiene. Auf der Straße, die deutlich schmaler war als ihre tieferen Windungen, patrouillierten Elfen jeden Alters - und selbst die Kleinsten waren bewaffnet. Schweigend harrten sie bei den Feuerkörben aus und wärmten sich, während alle anderen immer wieder misstrauisch über den Straßenrand blickten, in die schwarze Tiefe des Kraters, wo die Faitachen nur darauf warteten, dass ihre Gegner unachtsam wurden.
Denn der oberste Straßenring war der strategisch wichtigste, und er wurde entsprechend hart umkämpft. Noch war er in der Hand der Rebellen. Sollte sich das ändern, wäre der Krieg entschieden.
Maletorrex würde sofort Verstärkung hochschicken und alles komplett abriegeln, dachte Labinnah. Sie hielt den Blick gesenkt, als sie zwischen den Elfen auf die Barrikade zuschritt. Zwei Kinder rannten an ihr vorbei. Dann säßen wir fest: Faitachen über uns, Priesterschergen darunter ... sie brauchten nicht einmal weiterzukämpfen, um zu siegen. Sie könnten uns einfach aushungern.
Labinnah hatte die Straßensperre fast erreicht. Es war herzzerreißend zu sehen, woraus sie bestand. Nicht etwa aus alten Möbelstücken und Plunder wie auf den Straßen der Bessergestellten, nein. Die Armen hatten alles aus ihren Häusern getragen, was sie besaßen: Kleidung, Decken, Tische, Stühle ... Es war so wenig und doch so viel wertvoller als der aufgehäufte Überfluss weiter unten in der Stadt. Selbst die Kinder hatten ihre Schätze geopfert. Hier und da steckten Spielsachen in den Lücken; verdammt dazu zu brennen, wenn die Zeit kam. Ihre kleinen Besitzer waren an Labinnah vorbeigelaufen. Vielleicht, um noch einmal nach ihnen zu sehen.
Plötzlich stutzte die Elfe. Da war ein Lichtblitz gewesen, irgendwo draußen in der Dunkelheit! Misstrauisch wandte sie den Kopf, und tatsächlich: Auf der anderen Kraterseite, ein Stück unterhalb des Straßenrings, begann etwas zu flackern. Ein kleines Feuer. Sehr klein.
Viel zu klein.
Labinnahs Augen weiteten sich: Es kam auf sie zu!
»Deckung!«, schrie sie, packte die zwei Kinder und zog sie mit sich herunter. Der tödliche Brandpfeil zischte über sie hinweg, prallte an eine Hauswand. Er fiel harmlos zu Boden. Elfen rannten herbei und traten das Feuer aus.
Eine Frau drängte sich zwischen den Leuten durch, warf sich auf die Knie und zog die weinenden Mädchen in ihre Arme.
»Seid ihr unverletzt? Geht es euch gut?«, fragte sie besorgt.
Nur kurz sah sie zu Labinnah auf. »Danke!«
»Das war gezielt!«, sagte die junge Frau wütend. »Diese Verbrecher wollten die Kinder treffen! Um euch zu entmutigen. Damit ihr kapituliert.«
»Wir kapitulieren nicht«, antwortete die Frau grimmig und stand auf. »Jetzt erst recht nicht!«
Sie wandte sich der anderen Kraterseite zu, reckte die Faust.
»Wir-wollen-raus! Wir-wollen-raus!«
Hasserfüllt starrte sie dabei auf das Dunkel unterhalb der Ringstraße, das die kaltblütigen Anhänger der Priesterschaft verbarg. In der aufgeladenen Atmosphäre entzündete sich ein Funke. Er schoss durch den Krater, explodierte an der gegenüberliegenden Wand. Schmerzensschreie zeugten davon, dass das magische Feuer getroffen hatte.
Sie wurden übertönt von der Kampfansage der Rebellen.
»Wir-wollen-raus! Wir-wollen-raus!«, scholl es von allen Seiten auf allen Straßenringen durch die Nacht. Begleitet von
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