Die Silberschmiedin (2. Teil)
Mattstedt kam und überbrachte Eva ein wertvolles Buch, das Meister Kachelofen gedruckt hatte und das mit einer wundervollen Schließe versehen war.
Aus Frankfurt traf eine Sendung ein, in der sich neben einem Brief ihrer Mutter eine Urkunde befand, die ihr einen Anteil an Annaberger Kuxen übereignete. Eva freute sich über die Urkunde, die Mutter hatte ihre Meinung geändert und sie doch nicht enterbt.
Den Brief hingegen zögerte sie aufzumachen. Sie ahnte, dass das Papier nicht nur mit Glückwünschen beschrieben war. Doch schließlich brach sie das Siegel: «Meine liebe Eva», schrieb Sibylla.
«Du bist nun groß und darfst, solange du nicht verheiratet bist, einige Entscheidungen ohne meine Einwilligung treffen. Ich bin sicher, dass du verantwortungsvoll handeln und Andreas Mattstedt sehr bald heiraten wirst. Den Gesellen aber schicke fort. Der Auftrag der Dominikaner ist ausgeführt. Er passt nun nicht mehr in deine Werkstatt …»
Eva faltete den Bogen zusammen, ohne ihn zu Ende zu lesen. Dann seufzte sie. «Warum wollen ihn alle weghaben?», fragte sie leise. «Es ist wohl wirklich so, wie Ute gesagt hat. Heinrich, Mattstedt und meine Mutter gehören zur Alten Zeit. Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. David stört dabei, denn er lässt nichts, wie es war. Und Adam geht ihm aus dem Weg, weil sie sich so ähnlich sind.»
Erst als sie diese Worte leise aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie den ganzen Tag auf ein Zeichen des Gesellen gewartet hatte.
Nun, jetzt war der Abend hereingebrochen, und Eva beschloss, den Tag in angenehmer Gesellschaft ausklingen zu lassen. Die Fraternität würde sich heute bei Mattstedt treffen, und Eva war sicher, dass die Gespräche dort sie auf andere Gedanken bringen würde. Ihr Bruder war heute Abend ebenfalls eingeladen.
Und wer weiß? Vielleicht würde der Geselle sie ja gemeinsam mit Adam nach Hause begleiten? Vielleicht würde er nur auf einen Augenblick warten, um mit ihr allein zu sein? Sie schalt sich eine törichte Gans. Susanne war Davids Liebchen, das wusste sie doch eigentlich, seit sie ihr Kleid in seiner Kammer gesehen hatte. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu hoffen.
«Der Mensch ist das Maß aller Dinge.»
Die Fraternitätsschwestern und -brüder schreckten hoch. Verstört sahen sie Johann von Schleußig an. Ausgerechnet er, der im Dienste der Kirche stand, für die Gott das Maß aller Dinge war, wagte es, so etwas zu behaupten?
«Wer sagt so etwas?», fragte die Begine Hildegard aufgebracht.
Johann von Schleußig lächelte fein. «Der Satz stammt von einem griechischen Philosophen, von Protagoras, der ungefähr 2000 Jahre vor uns gelebt hat.»
«Nun», die Begine entspannte sich sichtbar. «Die griechische Antike ist untergegangen. Und ich muss sagen, zu Recht. Solche Sätze dienen niemandem. Sie verführen nur zur Überheblichkeit.»
Die anderen nickten. Der Hauslehrer Thanner stieß sogar seine Gattin ein wenig mit dem Ellbogen an.
«Nein! Protagoras hat Recht!»
David war empört aufgesprungen.
«Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen muss verantwortlich mitbestimmen können über das, was mit ihm und mit der Natur geschieht.»
«Aber dann brauchten wir keinen Gott mehr!»
Mattstedt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Sein Gesicht war blass, die Kinnpartien wirkten kantig. Eva, die neben ihm saß, legte einen Hand auf seinen Arm, doch Mattstedt schüttelte sie ab.
«Wir treffen uns hier, um über den rechten und wahren Glauben zu sprechen. Es ist nicht Sinn unserer Fraternität, Gott zu verdammen oder gar zu töten, wie Ihr, Geselle, es tut.»
«Da habt Ihr mich falsch verstanden, Ratsherr Mattstedt. Ich nehme Gottes Worte ernst. Vielleicht sogar ernster als Ihr. Er hat den Menschen mit Vernunft ausgestattet und ihm den Auftrag erteilt, der zu werden, der er ist. Der Mensch ist verpflichtet, sich selbst an den Platz zu stellen, den er auf dieser Erde am besten ausfüllen kann. Damit dient er Gott am besten.»
David stützte die Hände auf den Tisch und sah jeden Einzelnen nacheinander an. «Schaut Euch doch an», sprach er leise weiter. «Jeder von Euch ist den ganzen Tag nur mit sich selbst beschäftigt. Die Fragen, um die sich unser Leben dreht, werden nicht in der Bibel oder von Gott gestellt. Wie werde ich reicher, mächtiger, schöner?, fragt Ihr Euch. Ich aber frage: Was ist der Sinn unseres Lebens? Ich sage es Euch: Sucht den Platz, den Ihr für Euch wünscht. Erst wenn Ihr ihn gefunden habt, seid Ihr Gott
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