Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
ab.«
»Das kann ich nicht garantieren. Du weißt ja, wie wir Trunkenbolde sind.«
Er suchte nur Streit – weil er so von seinen Schuldgefühlen ablenken konnte. Aber diesen Gefallen tat ich ihm nicht. Ich ging wieder nach unten, und diesmal brannte die Kerze noch, und auch das Streichholz war noch da. Die Hotelfrau stand hinter ihrem Empfangstresen und las leise lächelnd in einem Brief. Offenbar gab es gute Nachrichten, denn ihre Stimmung war merklich besser als vorher. Sie grüßte mich sogar, wenngleich nicht überfreundlich. Immerhin, es war ein Anfang. Ich fragte, ob ich von ihr eine Schere und einen Spiegel borgen könne. Sie antwortete nicht direkt, sondern bot an, mir für 50 Cent die Haare zu schneiden. Anscheinend glaubte sie, ich benötigte diese Gegenstände dafür. Ich lehnte dankend ab und erklärte ihr die Sache mit den Fäden. Erstaunlicherweise interessierte sie das so sehr, dass sie mich auf mein Zimmer begleiten wollte, um bei der unappetitlichen Prozedur zugegen zu sein. Als ich einwandte, dass ich im Augenblick keinen Wert auf die Gegenwart meines Bruders legte, konnte sie mir nur zustimmen. »Das verstehe ich nur zu gut«, sagte sie und wollte wissen, wo ich den Eingriff stattdessen vorzunehmen gedachte. Ich musste zugeben, dass ich darüber noch gar nicht nachgedacht hatte, und sie stellte mir dafür ihr eigenes Quartier zur Verfügung.
»Haben Sie denn nichts Wichtigeres zu tun?«, fragte ich. »Heute Morgen kamen Sie mit der vielen Arbeit gar nicht nach.«
Sie errötete und sagte: »Tut mir leid, wenn ich etwas kurz angebunden war. Aber mein Dienstmädchen ist mir weggelaufen, und ich habe kaum geschlafen, so viel war hier zu tun. Außerdem hatten wir einen Krankheitsfall in der Familie, der mir Sorgen machte, weil ich so lange nichts mehr gehört hatte.« Sie tippte auf den Brief.
»Ich hoffe, es hat sich alles zum Guten gewendet.«
»Nicht alles, aber das meiste.« Mit diesen Worten wies sie mir den Weg hinter den Tresen und in ihre private Welt. Der Perlenvorhang klickte lieblich und kitzelte mein Gesicht, und mich überkam ein wahrer Glücksschauer. Es ist wahr, dachte ich, es gibt noch ein richtiges Leben, und ich bin mittendrin.
Falls ich mir je ihr Zimmer vorgestellt hätte (was nicht der Fall war), so hätte ich es mir zumindest ganz anders vorgestellt. Weder gab es Blumen noch andere Frauensachen wie Seide oder Parfum, und es war auch nichts mit weiblicher Hand arrangiert oder dekoriert oder drapiert, nichts dergleichen. Es gab keine hübschen Gedichtbände, keinen Schminktisch, nicht einmal das übliche Frisierzeug. Es gab auch keine Spitzendeckchen mit herzerwärmenden Sinnsprüchen, die uns in Zeiten der Not Trost zusprechen sollen oder die uns zumindest das tägliche Einerlei schönreden. Im Gegenteil, ihr Zimmer war ein fensterloser Bunker, wohin kein einziger Sonnenstrahl drang. Es lag unmittelbar neben Küche und Waschküche und roch nach Fett und Spülwasser und Seifenschlamm. Sie musste mir die Enttäuschung angesehen haben, denn sie meinte verlegen, ich sei wohl etwas anderes gewohnt. Eine Vermutung, der ich nicht laut genug widersprechen konnte und die ich unter überschwänglichem Lob zu ersticken suchte. Dahingehend, dass ihr Zimmer von außen nicht einsehbar und man dadurch ungestört sei und so weiter. Worauf sie sagte, das wäre nett gemeint, aber nicht nötig. Sie wisse, sagte sie, um die Unzulänglichkeit ihrer Unterkunft, doch müsse sie diese nur noch kurze Zeit ertragen, da der nie versiegende Strom der Goldsucher für gute Geschäfte sorge. »Nur noch sechs Monate, und ich ziehe in das schönste Zimmer hier im Hotel.« Ihr Ton verriet mir, dass dies eines der großen Ziele war, die sie im Leben hatte. Ich sagte: »Sechs Monate sind eine lange Zeit.«
»Ach was, ich habe schon auf viel weniger viel länger warten müssen.«
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun, das die Sache beschleunigt.«
Sie dachte nach. »Sagen Sie so etwas zu fremden Leuten immer?«
Sie führte mich an ein Tischchen aus Fichtenholz und stellte einen Spiegel vor mir auf. Darin erschien plötzlich mein übergroßes Gesicht, das ich wie immer mit einer Mischung aus Neugier und Selbstmitleid betrachtete. Sie gab mir auch eine Schere, die ich zunächst zwischen meinen Händen erwärmte. Ich richtete den Spiegel so aus, dass ich einen guten Blick auf mein Operationsgebiet hatte, und durchtrennte die schwarzen Fäden, die ich nacheinander aus dem Mund zog. Es tat nicht weh, sondern
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