Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
doch meine Wut war geweckt. Daher fuhr ich noch einmal herum und stellte den Kerl zur Rede. »Mir ist schleierhaft, warum Sie den Kleinen zu so einer brutalen Scheußlichkeit mitbringen müssen.«
Da sagte der kleine Junge: »Ach, ich habe schon oft gesehen, wie Leute getötet werden. Einen Indianer, den hatten sie aufgeschlitzt, dem flutschten die Gedärme nur so raus. Und den, den sie aufgeknüpft haben, draußen vor der Stadt, der hatte eine ganz dicke Zunge, so etwa …« Er zog das zugehörige Gesicht.
»Trotzdem, richtig ist das nicht«, sagte ich dem Mann. Während das Kind weiter seine Grimassen schnitt, nahmen die Kontrahenten auf der Straße ihren Platz ein. Wer wer war, ließ sich leicht ersehen. Auf der einen Seite Stamm, unrasiert und sonnengegerbt und in der übliche Kluft aus Leder und verwaschenem Kattun. Stamm war ohne Sekundant erschienen, stand allein mit schlaff herunterhängenden Armen und überblickte mit toten Augen die Menge. Williams, der Anwalt, hingegen trug einen grauen Maßanzug und präsentierte sich mit ordentlich gezogenem Mittelscheitel und frisch gewichstem Schnurrbart. Sein ebenso stutzerhaft herausgeputzter Sekundant entkleidete ihn seines Rocks, worauf Williams vor aller Augen mehrere Kniebeugen vollführte. Die wahre Überraschung aber kam, als er seine Turnübungen gemacht hatte. Er legte nämlich pantomimisch auf seinen Gegner an, drückte ab und imitierte einen Rückstoß. Vereinzeltes Gekicher in der Menge, doch Williams’ Miene blieb unbewegt. Stamm hingegen erschien mir angetrunken oder zumindest noch voller Restalkohol.
»Für wen bist du?«, fragte ich die Frau.
»Also dieser Stamm ist auf jeden Fall ein Dreckskerl. Williams kenne ich gar nicht, aber er dürfte nicht besser sein: ein Widerling, nur anders.«
Dies hörte der Mann mit dem Jungen auf der Schulter und sagte: »Mister Williams ist kein Widerling. Mister Williams ist ein Gentleman.«
Ich wandte mich langsam um. »Freund von Ihnen?«
»Ich kann mit Stolz behaupten: ja.«
»Dann hoffe ich, Sie haben sich von ihm verabschiedet, denn er ist schon so gut wie tot.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Er hat keine Angst.«
Die Bemerkung war in diesem Zusammenhang so unglaublich dumm, dass ich lachen musste. »Na und? Was ändert das?«
Der Mann machte nur eine wegwerfende Geste. Der Junge aber schien zu ahnen, was kam. Ich sagte zu ihm: »Dein Vater möchte offenbar, dass du Blut siehst. Der Wunsch geht in Erfüllung, das verspreche ich dir.« Der Mann, der mich gehört hatte, fluchte und verdrückte sich an eine andere Stelle, wo er das Duell ungestört genießen konnte.
Dann hörte ich Williams’ Sekundanten, der Stamm zurief: »Wo ist Ihr Sekundant, Sir?«
»Weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht«, entgegnete Stamm.
Williams besprach sich mit seinem Sekundanten. Der Sekundant nickte und forderte Stamm auf, seine Waffe vorzuzeigen. Stamm hatte nichts dagegen. Dann fragte der Sekundant, ob er, Stamm, die Pistole seines Kontrahenten sehen wolle. Stamm wollte nicht. Dann trat Williams hinzu, und Stamm und Williams standen sich Aug in Aug gegenüber. Dem furchtlosen Auftreten zum Trotz war Williams wohl geneigt, das Duell an dieser Stelle abzubrechen. Er flüsterte seinem Sekundanten etwas ins Ohr, und der Sekundant fragte Stamm: »Falls Sie sich bei Mr. Williams entschuldigen wollen, wäre Mr. Williams durchaus zufriedengestellt.«
»Will ich nicht«, sagte Stamm.
»Nun gut«, sagte der Sekundant. Er stellte die beiden Männer Rücken an Rücken gegeneinander und sagte die Distanz an, aus der geschossen werden sollte: zwanzig Schritte. Dann zählte er, und die Duellanten schritten im Takt die ausgerufenen Zahlen ab. Williams lief mittlerweile der Schweiß von der Stirn, und sein Revolver zitterte, während Stamm so gleichgültig tat, als ginge er aufs Klo. Dann, bei zwanzig, drehten sie sich um und feuerten. Williams schoss daneben, aber Stamms Kugel traf Williams in die Brust. Das Gesicht des Anwalts verzerrte sich zu einer grotesken Maske aus Schmerz und Überraschung, vermischt, wenn mich nicht alles täuschte, mit dem Ausdruck persönlicher Kränkung. Taumelnd hob er noch einmal den Arm und feuerte in die Menge. Schreie wurden laut, denn diesmal hatte er getroffen. Die Kugel schlug einer jungen Frau ins Schienbein, sie wälzte sich im Staub und hielt ihre Wunde. Ich weiß nicht, ob Williams seinen schändlichen Fehler überhaupt bemerkte, denn als ich wieder zu ihm hinübersah, lag er tot
Weitere Kostenlose Bücher