Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
holte tief Luft, wobei ein Beben seinen Körper erschütterte. Er wollte antworten, öffnete sogar den Mund, doch kein Laut entrang sich seiner Brust. In seinem verzweifelten Zustand war eine Verständigung mit ihm offenbar unmöglich.
Ich sagte: »Ich sehe, Sie haben Kummer und möchten in Ruhe Ihren Weg fortsetzen. Falls ich Sie gestört habe, entschuldige ich mich und kann nur hoffen, Sie finden an Ihrem Ziel etwas Erfreulicheres vor.« Ich stieg wieder auf mein Pferd Tub und bemerkte auf halbem Weg zu unserem Lagerplatz, dass Charlie aufgestanden war und mit dem Revolver in meine Richtung zielte. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass mir der Weinende auf seinem Pferd folgte, wenngleich wohl nicht in böser Absicht. Ich signalisierte Charlie, die Waffe zu senken. Kurz darauf ritt der Weinende neben mir her und sagte: »Ich nehme Ihre Einladung an.« Am Lager angekommen, fasste Charlie das Pferd des Fremden an der Trense und sagte: »An Ihrer Stelle würde ich mich einem Mann nicht so von hinten nähern. Ich dachte schon, Sie hätten es auf ihn abgesehen, und hätte Sie beinahe über den Haufen geschossen.« Der Weinende jedoch antwortete lediglich mit einer wegwerfenden Geste, so als sei die Warnung vollkommen unerheblich, was Charlie überraschte. Daher sah mich Charlie an und fragte: »Wer ist dieser Mensch?«
»Er ist völlig verwirrt. Ich habe ihm etwas zu essen angeboten.«
»Außer Zwieback haben wir nichts mehr.«
»Dann mache ich ihm noch etwas.«
»Das lässt du schön bleiben.« Charlie nahm den Weinenden in Augenschein. »Was für ein Jammerlappen!«
Da räusperte sich der Weinende und sagte: »Es zeugt nicht von Intelligenz, sich über anwesende Dritte zu äußern, als wären sie nicht da.«
Charlie wusste offenbar nicht, ob er lachen oder zuschlagen sollte. Zu mir gewandt, sagte er: »Jetzt spinnt er total.«
»Bitte sehen Sie sich vor, was Sie sagen«, riet ich dem Fremden. »Meinem Bruder ist heute nicht wohl.«
»Wohl genug«, sagte Charlie.
»Sein Mitgefühl mit der Welt hält sich heute in Grenzen«, sagte ich.
»Er sieht krank aus«, sagte der Weinende.
»Ich sagte, mir geht’s gut, verdammt.«
»Er ist vielleicht nicht ganz gesund«, sagte ich. Ich sah, dass Charlie mit seiner Geduld am Ende war, daher nahm ich schnell ein paar Scheiben Zwieback und drückte sie dem Mann in die Hand. Er sah sie an und begann auf einmal wieder zu weinen, bis sein Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. »So war er auch vorhin, als ich ihn fand.«
»Was ist mit ihm?«
»Hat er nicht gesagt.« Ich sagte zu dem Weinenden: »Sir, was ist mit Ihnen?«
»Sie sind fort!«, rief er. »Alle. Alle sind sie fort.«
»Wer ist fort?«, fragte Charlie.
»Fort – ohne mich! Ich wollte, ich wäre tot. Ich will auch fort von hier, aber mit ihnen!« Er ließ den Zwieback fallen und zog mit seinem Pferd weiter. Alle zehn Schritte hielt er an, warf den Kopf nach hinten und stöhnte laut auf. Er machte das ganze drei Mal, bis wir uns abwandten und unseren Kram zusammenpackten.
»Ich frage mich, was er hat«, sagte Charlie.
»Irgendetwas Schlimmes hat ihn wahnsinnig gemacht. Davon ist er verrückt geworden.«
Als wir die Pferde bestiegen, war der Weinende verschwunden, und der Grund für seinen Schmerz blieb für immer ein Geheimnis.
Schweigend ritten wir weiter und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Es gab zwischen uns das ungeschriebene Gesetz, es nach dem Essen langsam angehen zu lassen und nicht gleich wie die Wilden weiterzureiten. Unser Dasein war auch so schon schwer genug, sodass wir uns diesen Luxus gerne gönnten. Ich fand immer, dass gerade die kleinen Dinge darüber entschieden, ob man mit seinem Leben so weitermachen will oder nicht.
»Was hat dieser Hermann Warm eigentlich verbrochen?«
»Er hat etwas an sich genommen, was dem Kommodore gehört.«
»Was hat er denn genommen?«
»Dies werden wir noch früh genug sehen. Erst einmal geht es darum, ihn umzulegen.« Er ritt voraus und ich hinterher. Ich hatte schon früher über dieses Thema reden wollen, sogar vor unserem letzten Auftrag.
»Charlie, hast du dich eigentlich nie gewundert, dass alle diese Leute den Kommodore bestehlen wollten. So dumm kann doch eigentlich keiner sein – bei einem Mann, der überall gefürchtet ist.«
»Der Kommodore hat Geld, und Geld zieht Diebe an.«
»Und wie kommen sie an sein Geld? Wir kennen den Kommodore als vorsichtigen Mann, wie können sich hergelaufene Halunken an seinem Reichtum
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