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Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Titel: Die Sisters Brothers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick deWitt
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Äpfel. Mutter hatte sie in ein Tuch geschlagen und uns damit nach draußen geschickt. Ich glaube, sie ahnte, dass es jeden Moment Streit geben konnte.«
    »Es war ein verblichenes rotes Tuch.«
    »Genau. Und die Äpfel waren grün und noch unreif. Ich weiß noch, was du für ein Gesicht gemacht hast, weil die Äpfel noch so grün waren. Ziemlich clever für dein Alter.«
    »Ich weiß nur noch, wie sauer die Äpfel waren.« Sogar die bloße Erinnerung zog mir den Mund zusammen und ließ den Speichel fließen.
    Charlie sagte: »Es war an einem mörderisch heißen Tag. Wir saßen im hohen Gras, aßen diese Äpfel und hörten uns das Gekeife von Vater und Mutter an – zumindest habe ich das getan. Was mit dir war, weiß ich nicht.«
    Während er diese alte Geschichte erzählte, trat mir das Szenario immer klarer vor Augen. »Ich glaube, ich erinnere mich.« Dann war ich sicher. »Ist dabei etwas kaputtgegangen?«
    »Ja«, sagte er. »Du erinnerst dich ja wirklich.«
    »Irgendetwas zersplitterte, und Mutter schrie.« Mir schnürte sich plötzlich die Kehle zusammen, und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
    »Vater zerschlug mit der nackten Faust die Fensterscheibe und traf Mutter später mit einem Axtstiel am Arm. Ich glaube, er war wahnsinnig geworden. Früher war es zwar auch schlimm, aber an diesem Tag war eindeutig eine Grenze überschritten. Ich merkte es, als ich ins Haus lief, um Mutter zu helfen. Vater hatte sich endgültig aus der normalen Welt verabschiedet. Als ich mit dem Gewehr ins Zimmer kam, erkannte er mich nicht einmal mehr.«
    »Wie wird man eigentlich wahnsinnig?«
    »Na ja, so etwas passiert eben manchmal.«
    »Kann man genauso wieder normal werden?«
    »Nein, ich glaube nicht. Es geht nur in eine Richtung.«
    »Angeblich kriegt man es von seinem Vater vererbt.«
    »Darüber habe noch nie nachgedacht. Warum sagst du das? Fühlst du dich manchmal verrückt?«
    »Manchmal fühle ich mich … hilflos, irgendwie.«
    »Das ist nicht dasselbe.«
    »Hoffen wir’s.«
    Er sagte: »Erinnerst du dich noch an mein erstes Gewehr? Vater nannte es immer mein Knallerbsengewehr. Aber als ich dann auf ihn anlegte, war es vorbei mit den dummen Witzen. Ich schoss zweimal auf ihn, erst in den Arm, dann in die Brust. Der zweite Schuss streckte ihn nieder. Und als er dann auf dem Boden lag und nach mir spuckte, die ganze Zeit lang, mich verfluchte und nach mir spuckte, so voller Hass … Ich meine, diesen Hass habe ich weder vor- noch nachher irgendwo gesehen. Da liegt unser Vater auf dem Boden, spuckt Blut und spuckt es nach mir. Mutter war immer noch ohnmächtig. Ihr Arm war so böse gebrochen, dass sie ohnmächtig geworden war. Ein Segen, so musste sie nicht mit ansehen, wie der Sohn ihren Mann tötet. Kurz darauf röchelte er sein Leben aus, und ich schleifte ihn in den Stall. Als ich zurückkam, war Mutter zwar wach, aber völlig weggetreten. Ich glaube, es waren die Schmerzen und die Angst. Dauernd fragte sie: ›Woher kommt das Blut? Von wem ist das Blut?‹ Ich sagte, es wäre meins, etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich half ihr hoch und brachte sie zum Wagen. Die Fahrt war lang, und sie schrie bei jedem Schlagloch. Ihr Unterarm war abgeknickt wie das Gelenk eines Insekts, wie der offene Kipplauf einer Flinte …«
    »Und dann?«, fragte ich, denn daran hatte ich überhaupt keine Erinnerung.
    »Als ich ihr endlich etwas Medizin eingeflößt hatte und ihr Arm geschient war, war es später Nachmittag. Wir waren schon auf der Rückfahrt, als ich zum ersten Mal wieder an dich dachte.« Er hustete. »Ich hoffe, das kränkt dich jetzt nicht.«
    »Es kränkt mich nicht.«
    »Ich hatte eben tausend andere Sachen im Kopf. Und du warst ja auch kein schwieriges Kind, sondern immer in deiner eigenen Welt und still mit dir selbst beschäftigt. Aber wie ich schon sagte, es war entsetzlich heiß an diesem Tag. Und natürlich hast du dir, kaum war ich weg, das Häubchen vom Kopf gezogen. Vier oder fünf Stunden musst du in der prallen Sonne gesessen haben, mit deinen blonden Haaren und deiner hellen Haut. Mutter saß derweil betäubt im Wagen und schlief. Ich ließ sie da und rannte zu dir. Ich dachte gar nicht daran, dass du in der Sonne verbrennen könntest, sondern hatte nur Angst, dass dich der Kojote frisst oder dass du im Fluss ertrinkst. Also war ich erst einmal sehr erleichtert, als ich dich hinten auf der Wiese sitzen sah. Ich rannte den Hügel hinunter, um dich zu holen, aber du warst krebsrot, sogar das

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