Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
Weiß in deinen Augen war rot wie Blut. Zwei Wochen lang warst du blind, und deine Haut löste sich in Fetzen wie bei einem Tier, das sich häutet, oder wie bei einer Zwiebel. Und deshalb, Eli, hast du bis heute diese Sommersprossen.«
Dieser Hafen! Dieser Hafen ging, als ich ihn zum ersten Mal sah, über meinen Verstand. Da lagen so viele Schiffe vertäut, dass sich ihre Masten anscheinend unentwirrbar ineinander verhakten, und sie lagen so eng beieinander, dass der Eindruck eines riesigen Waldes entstand, der auf den Wellen schaukelte. Charlie und ich gingen hinunter ans Ufer, und überall herrschte Chaos und Gedränge. Männer jeden Alters und jeder Rasse rannten, schrien, schoben und boxten sich durch die Menge. Hier trieb man eine Kuh- oder Schafherde vorbei, dort quälte sich ein mit Holz oder Ziegelsteinen beladenes Fuhrwerk den schlammigen Hügel hinauf, während der Lärm von Hämmern, Äxten und Sägen bis weit aufs Meer hinausschallte. Zwar lachten die Leute auch, allerdings nicht aus Frohsinn, sondern eher vor Schadenfreude. Kein Wunder, dass mein Pferd Tub unruhig wurde, ich war es ebenso. Etwas wie das hier hatte ich noch nie im Leben gesehen und fragte mich unwillkürlich, wie wir in diesem Babylon mit tausend verwinkelten, dunklen Straßen und Gässchen einen einzelnen Mann finden sollten.
»Gehen wir erst einmal zu Morris«, sagte ich.
»Ach was«, sagte Charlie, »der wartet schon wochenlang, da kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an.« Natürlich behagte meinem Bruder die Atmosphäre der Stadt sofort, von Nervosität keine Spur.
Mir fiel auf, dass viele Schiffe offenbar schon länger im Hafen lagen und dass nicht einmal ihre Ladung gelöscht war. Ich fragte einen zufälligen Passanten nach dem Grund. Der Mann war barfuß und hatte ein lebendes Huhn unterm Arm, dem er während unserer Unterhaltung liebevoll den Kopf streichelte.
»Die Besatzungen sind alle abgehauen«, sagte er. »Wen das Goldfieber packt, der ist nicht mehr zu halten. Wer will schon Mehlkisten schleppen für einen Dollar am Tag, wenn die Flüsse vor der Stadt das Lied vom großen Geld singen?« Er blinzelte in Richtung des Meereshorizonts und sagte: »Immer wenn ich diese Schiffe sehe, stelle ich mir die fassungslosen Anteilseigner vor, die sich jetzt in New York oder Boston die Haare raufen, aber nichts, gar nichts machen können. Und ich muss sagen, das freut mich. Darf ich fragen, ob Sie gerade angekommen sind? Wie gefällt Ihnen die Stadt?«
»Also mir gefällt sie, und ich möchte sie gern näher kennenlernen«, sagte Charlie.
Worauf der Mann entgegnete: »Bei mir hängt es von der Stimmung ab. Aber es könnte auch sein, dass diese Stadt ganz unterschiedlich auf meine Stimmung einwirkt, wodurch sich die Katze in den Schwanz beißt. Einmal ist diese Stadt ein wahrer Freund, ein andermal mein schlimmster Feind.«
»Und wie ist Ihre Stimmung heute Morgen?«
»Etwa mittel. Alles in allem geht es mir ja nicht schlecht, vielen Dank.«
Da sagte Charlie: »Und wie kommt es, dass die Schiffe nicht geplündert wurden?«
»Oh, viele sind schon geplündert. Die, die nicht geplündert wurden, werden entweder von sturen Kapitänen bewacht oder haben nichts von Wert geladen. Und dazu gehört sogar Getreide und Baumwolle. Das will niemand mehr – oder fast niemand.« Er deutete auf einen Mann auf dem Wasser, der sein kleines Ruderboot zwischen die großen Lastschiffe lenkte. Das kleine Boot war grotesk überladen, und der Mann tauchte die Ruder mit größter Vorsicht ins Wasser, damit es nicht kenterte. »Schauen Sie sich diesen Herrn an, er heißt Smith. Ich kenne ihn gut. Was wird er tun, wenn er seine Beute angelandet hat? Er wird sein elendes Maultier mit diesen schweren Kisten beladen und sie zu Miller’s General Store bringen. Miller wird Smith einen erbärmlichen Preis dafür zahlen, und Smith wird die paar Dollar in den nächsten Saloon tragen, wo es in der ersten Runde Poker verloren geht. Wenn er schlau ist, investiert er es in eine warme Mahlzeit, aber ich bin nicht einmal sicher, ob das Geld dafür reicht. Hatten die Gentlemen bereits das Vergnügen, in unserer schönen Stadt zu speisen? Dumme Frage, ich hätte es an Ihrer blassen Gesichtsfarbe erkennen müssen – und an den Flüchen, die Ihnen beim Namen San Francisco entfahren.«
Charlie sagte: »In Mayfield hat eine einzige Hure fünfundzwanzig Dollar gekostet.«
Worauf der Mann entgegnete: »Das bezahlen Sie hier schon, wenn Sie sich zu ihr an
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